Essen. „Szenen des Lesens“ beleuchtet Julika Griem, Chefin des Kulturwissenschaftlichen Instituts im Buch: von Instagram-Bildern und Romantherapien.
Im ersten Lockdown hat Julika Griem, Chefin des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, beschlossen, alle 75 Maigret-Romane von Georges Simenon zu lesen. Nicht „als Einlösung eines lange gehegten Bildungsvorhabens“ (wie etwa: „endlich alles von Stifter“), sondern als „eine unterhaltsam-beruhigende Verbindung von Arbeit und Struktur“. Und siehe da: Vor allem die „repetitiv verstetigte Ausstattung“ der Romane zogen die Leserin in ihren Bann, die Brasserien und Straßen in Paris – „Simenon erschafft eine durch Lesen bewohnbare Welt“.
Mit dieser Lese-Szene steigt Julika Griem ein in ihr Essay „Szenen des Lesens“, das eine scheinbar so vertraute Tätigkeit frisch in den Blick nimmt. Wovon reden wir, wenn wir vom Lesen reden? Und reden wir heute mehr als früher davon? Griem seziert die vielen Ratgeberbücher zum Thema, von Kritiker Denis Scheck, Verlegerin (und früherer Kritikerin) Felicitas von Lovenberg, Autor (und früherem Verleger) Rainer Moritz; und eine „Romantherapie“ empfiehlt die besten Seiten für jede (Über-)Lebenslage.
„Die Wissenschaft“ wird oft undifferenziert dargestellt – auch bei Denis Scheck
Was der (Buch-)Autorin Griem auffällt, was sie unverblümt zur Sprache bringt: Diese Leseratgeber erschaffen eine Welt, in der „die Nicht-Lesenden eindeutig die Schurken darstellen: Denn auch die Wissenschaft sage ja, dass wir nur durch regelmäßiges Lesen glücklichere, gesündere, bessere und erfolgreichere Menschen werden“. Dazu zögen Scheck und Co. „die Wissenschaft“ heran, neurologische Erkenntnisse etwa, die jedoch undifferenziert dargestellt würden. Letztlich sieht Griem hier eine Verbindung zur „affektiven Aufladung insbesondere des literarischen Lesens“ im 18. Jahrhundert: Hier entstand die Idee, den Autor als Freund zu sehen und das Lesen als Zwiegespräch.
Ich lese, also bin ich ein guter Mensch: Die Selbstinszenierung in der virtuellen Welt, die „digitale Artikulationen aktueller Bibliophilie“ aber „verlassen sich nicht mehr auf die große Bücherwand, die raffinierten Einbauregale“ – sondern schaffen „Mikroräume“ „in denen sich zum Buch der Kaffeebecher und die Suppen-Bowl, die Wolldecke, das Haustier, viele Zimmerpflanzen und andere Lifestyle-Objekte zur individualisierten Leseumgebung formieren, die nun eher einem Stillleben als einem Interieur entspricht“ – längst seien dies Bilder, die sich zu „ikonischen Standardsituationen“ verdichtet hätten.
Amanda Gormans „The Hill We Climb“ – eine „Aufführung von Literarizität“
Ebenso fein beobachtet Julika Griem einen der spektakulärsten literarischen Auftritte des Jahres, Amanda Gormans Rezitation des Gedichts „The Hill We Climb“ bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden als eine auffällige „Aufführung von Literarizität“: „Für die meisten begeisterten Zuschauerinnen trat der lyrische Text in den Hintergrund, weil Gorman ihr Publikum durch Rhythmus und Gesten, Mimik und Ausstrahlung faszinierte. In dieser aktuellen Variante des Zeigens von Literatur und Belesenheit stand somit eine mündlich geprägte Performanz im Vordergrund.“
Der Boom von Festivals wie LitCologne und ILB
Dazu passt natürlich der jüngere Boom literarischer Festivals, deren Vorläufer die Salons des 18. Jahrhunderts waren – einerseits. Andere Vorläufer waren: „Jahrmärkte, Weltausstellungen und Messen“. Die Autorin skizziert das Internationale Literaturfestival Berlin und die LitCologne, hier stünden sich, so Griem „die idealistischen und politisch auftretenden Berlinerinnen und die geschäftstüchtigen Popularisierungskünstlerinnen in Köln gegenüber“.
Böse, bissig? Aber nein. Durchaus befreiend wirkt die Lektüre dieses Büchleins, das den Mythos Lesen so ganz ohne rosa Brille betrachtet. Ob es um die die All-Age-Literatur seit Harry Potter und die von „magischem Denken“ befeuerte Diskussion über die Bedeutung des Lesens für Kinder geht oder die individuellen Erzählungen von einem sozialen Aufstieg durch Bücher, wie etwa in den Biographien von Annie Ernaux und Eduard Louis oder, in Deutschland, Deniz Ohde, um die „Strategien der Positionierung von Leseszenen in diesen Bildungserzählungen“ – der Blick auf die Szenen ist nicht kritisch, sondern nur frei von jeder Ideologie. Und vor allem frei von jedem Kitsch, mit dem „das Lesen“ so oft dekoriert wird.
Julika Griem zieht kein Fazit, nirgends
Am Ende zieht die Autorin kein Fazit, sondern gliedert eine mögliche universitäre Lehrveranstaltung: das Buch als Diskussionsgrundlage. Ihr Essay ist im besten Sinne kulturkritisch, vor allem aber zutiefst menschenfreundlich: Es gehe, schreibt Julika Griem, um „die Fähigkeit, das eigene Tun mit einem möglichst neugierig-verfremdenden Blick zu betrachten und dabei die Freude am Machen und am Können gerade nicht zu verlieren.“
Also lesen wir! Und schauen uns dabei zu.