ESSEN. . Schwere Leben: Die große Autorin Annie Ernaux beschreibt in ihrer anrührenden Miniatur „Der Platz“ ihr Aufwachsen in einfachste Verhältnissen.
Zwei Jahrzehnte, ehe Ulla Hahn erinnernd abtauchte in die Hefe des Proletariats, „Das verborgene Wort“ aus dem Mief des Platt sprechenden Elternhauses zu retten, entstand in Frankreich ein Protokoll in Prosa von ganz ähnlichem Geist.
Es war eine Gymnasiallehrerin, die in fesselnder Nüchternheit 1984 auf nicht einmal 100 Seiten aufschrieb, was es für sie bedeutete, aus einfachsten Verhältnissen zu kommen: die Häuser der Großeltern mit ihren Lehmböden, die Feindseligkeit gegenüber anderen Kasten, die herben Gerüche des Alltags, die selbstausbeuterische Tüchtigkeit, das roh geäußerte Unverständnis für Bücher und Bildung, die Kinderarbeit ab 13.
Respekt und Unverständnis
Annie Ernaux’ Ton speisen in „Der Platz“ rivalisierende Haltungen – und dennoch bestehen in dieser zutiefst anrührenden Miniatur Respekt und Unverständnis, Achtung und Verachtung ganz nah und natürlich nebeneinander.
Der Anfang ist das Ende: Vom Sterbebett des 67-jährigen Vaters aus reist Ernaux zurück. „Keine Erinnerungspoesie, kein spöttisches Auftrumpfen“ verordnet sie, die heute eine Große der französischen Gegenwartsliteratur ist, und hält Wort. Die Stärke dieses Buchs ist, wie das vorsätzlich Kunstlose – sie sammelt „objektive Beweise einer Existenz, von der ich ein Teil gewesen bin“ – seine eigene Magie entwickelt. Um den Kramladen mit Kneipe im Departement Seine-Maritime siedelt Ernaux den Kosmos des wunschlosen Unglücks an, erzählt von Sprachlosigkeit, vom völligen Unverständnis ihrer Familie für Dinge wie Höflichkeit, wenn doch niemand draußen sie sieht.
Protagonisten haben Würde
Das Buch ist keine Abrechnung mit der Fremdbestimmung der kleinen Leute, obwohl davon so oft die Rede ist. Ernaux’ Protagonisten haben Würde, denn es ist diese Welt ja zugleich – wie sie sagt – das „Erbe, das ich zurücklassen musste“.
Annie Ernaux: Der Platz. Suhrkamp, 95 S., 18€.