Essen. Mehrfach preisgekrönt ist Deniz Ohdes Romandebüt „Streulicht“: Die Autorin erzählt vom schweren Start eines Arbeiterkindes mit türkischen Wurzeln.
Eine feine Säure liegt in der Luft, die „etwas dicker“ ist, „als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte“. Ein leises Brummen erfüllt den Ort, aber auch das fällt der Erzählerin nach ein paar Stunden kaum noch auf. Die Siedlung liegt am Rande eines Industrieparks, der bei Dunkelheit „glüht wie eine riesige gestrandete Untertasse“: „orangeweißes Streulicht erfüllt den Nachthimmel, gespeist von den Neonröhren, die jedes Stockwerk der Türme ausleuchten“. Im Winter rieselt Industrieschnee vom Himmel, „dicker und klebriger“ als normaler Schnee – eine märchenhafte Zwischenwelt, nicht Stadt, nicht Land, ein verwunschener Ort.
Dies ist „der Ort“, hier wuchs die Erzählerin auf, hierhin kehrt sie zurück und flaniert durch alte Straßen und ein altes Leben. Sie erinnert sich: Der Arbeiterstolz des Vaters, der blutige Husten der Mutter, die vollgestopfte, vollgerauchte Wohnung, aber auch die Freundschaft zu Sophie und Pikka und die Shisha-Abende in Pikkas Keller, begleitet von Rammstein und nur Rammstein. Dabei das Gefühl, fremd zu sein unter den Freunden, die diesen Ort und ihr lebenslanges Dasein darin gar nicht infrage zu stellen scheinen. Wo soll so ein Anfang denn nur enden?
Präzise und behutsam geht Deniz Ohde in ihrem Debütroman „Streulicht“ vor
Präzise und behutsam geht Deniz Ohde in ihrem Debütroman „Streulicht“ vor. Die Mutter der Ich-Erzählerin stammt aus einem Dorf in der Türkei, der Vater ist Arbeiter in der Fabrik, weil auch sein Vater das war und das Wort „Wunsch“ in seiner Familie nicht existierte. Den Namen der Protagonistin erfahren wir nicht, aber erfahren immerhin so viel: Weder auf den personalisierten Scout-Schulranzen noch in den Geschichten des Deutschbuchs ist dieser Name zu finden.
Ebenso lakonisch, kommentarlos schildert Deniz Ohde die Schulhof-Hänseleien, die verschmierten Schriftzüge an den Hauswänden des Dorfes, die Fernsehnachrichten, die die Eltern immer schnell ausschalten, wenn die Tochter das Zimmer betritt. Wir befinden uns in den 90er-Jahren, dies ist die Zeit der Anschläge, der Lichterketten.
Aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt des Jahres
Deniz Ohde, geboren 1988 in Frankfurt am Main, zoomt sich ganz nah heran und nutzt dabei eigenes Erleben: Die Frage nach dem Habitus, das Gefühl der Fremdheit, das Schulscheitern – diese Erfahrungen seien durchaus ihre, sagte Deniz Ohde in einem Interview. Doch sie löst einfache Kausalketten auf, sucht nicht Schuld, sondern Bilder, Stimmungen: Die Abendschule, in der Erwachsene wie die Kinder mit dem Gong aufspringen, die Verlobungsfeier von Pikka und Sophie, deren „wässriges, schüchternes Lächeln“ in seinem Arm, die unsichere Stimme der Erzählerin, als sie dem Rektor sagt: „Ich möchte studieren.“
Die Autorin selbst studierte in Leipzig, wo sie heute noch lebt. Ihr Romandebüt, das im Suhrkamp-Verlag erschien, stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, wurde geehrt mit dem Jürgen-Ponto-Preis und jüngst mit dem Aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt des Jahres. Nach der Lektüre ihres Romans klingt ein Satz nach, mit dem AbendschulKumpel Cansu der Erzählerin Mut zusprach: „Du kannst noch alles retten“ – ein Appell, ein Antrieb.
Deniz Ohde: Streulicht. Suhrkamp, 284 S., 22 €. Livestream-Lesung (5 €), 21.11.: literaturhaus-stuttgart.de .