Essen. Nicht alle Eltern lesen ihren Kindern regelmäßig vor. Vielen fehlt im Alltag die Zeit, anderen macht das Vorlesen keinen Spaß.

„Eltern, die vorlesen, verbessern die Bildungschancen ihrer Kinder nachweislich“, sagt Jörg Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen. Und obwohl nur ein paar Minuten täglich nötig wären, um Kindern das eigene Lesenlernen zu erleichtern, lesen 32 Prozent aller Eltern in Deutschland ihren Kindern nie oder nur selten vor. Das geht aus der Vorlesestudie des Jahres 2020 hervor, einem gemeinsamen Projekt der Stiftung Lesen, der Wochenzeitung „Die Zeit“ und der Deutsche Bahn Stiftung. Diese Zahl ist allerdings auch seit Jahren konstant.

Doch was sind die Gründe dafür? Haben Eltern etwa keine Bücher, aus denen sie ihren Kindern vorlesen können? Oder haben sie schlichtweg keine Lust? Während die abendliche Vorlesezeit, oft vor dem Einschlafen, für viele Kinder ein wichtiges Ritual ist, würden ihre gestressten Eltern am liebsten darauf verzichten: Von 528 befragten Müttern und Vätern, die alle zugaben, ihren Kindern selten oder nie vorzulesen, haben die meisten laut eigenen Angaben keine Zeit zum Vorlesen, sind zu erschöpft und müde oder haben anderes zu tun, wenn sie zu Hause sind. Knapp die Hälfte der Eltern ist außerdem der Meinung, dass ihren Kindern woanders schon genug und meist auch besser vorgelesen wird, zum Beispiel in der Kita.

„Schon fünf Minuten Vorlesen sind besser als nichts“

„Eltern, die durch Job, Haushalt und Kinderbetreuung stark belastet sind, oft als Alleinerziehende, sehen sich damit überfordert, nach einem anstrengenden Tag abends auch noch vorzulesen“, sagt Rainer Essen, Geschäftsführer der „Zeit“-Verlagsgruppe. Dabei lasse sich das Geschichtenlesen oft sehr einfach mit anderen Freizeitaktivitäten wie Malen und Basteln verbinden, so Esser. „Schon fünf Minuten Vorlesen sind besser als nichts.“

In vielen deutschen Haushalten mangelt es jedoch auch an geeignetem Lesestoff. Mehr als zwei Drittel der befragten Mütter und Väter gaben an, dass ihre ein- bis sechsjährigen Kinder maximal zehn Bücher haben. In 13 Prozent der Familien haben Kinder sogar kein einziges eigenes Buch. Eltern sehen darin aber nur selten ein Problem. So beklagen gerade einmal 15 Prozent, dass sie nichts haben, was sie vorlesen können – und in der Tat zeigt die Erfahrung, dass gerade kleine Kinder kein Problem damit haben, jeden Abend dasselbe Buch vorgelesen zu bekommen.

Es freuen sich aber nicht nur Kinder, sondern auch Eltern über Kinderbücher unter dem Weihnachtsbaum oder auf dem Geburtstagstisch. 57 Prozent aller befragten Familien fänden es gut, wenn ihre Sprösslinge regelmäßig Bücher geschenkt bekämen. Der Studie zufolge könnten Buchgeschenke – ebenso wie eine gute Auswahl an Kinderbüchern in Supermärkten – dafür sorgen, dass Eltern ihren Kindern häufiger vorlesen.

Viele Eltern haben keinen Spaß am Vorlesen

Egal ob Superhelden, Prinzessinnen oder Dinosaurier – rund der Hälfte der befragten Eltern macht es einfach keinen Spaß, ihren Kindern Geschichten vorzulesen. Einige gaben an, dass ihre Kinder unruhig sind und sie beim Lesen unterbrechen. Andere wiederum hören nur ungern ihre eigene Stimme. Manche Eltern glauben außerdem, schauspielern und sich verstellen zu müssen und verzichten deshalb auf das gemeinsame Lesen.

„Viele der befragten Eltern stehen dem Vorlesen kritisch gegenüber – es macht ihnen keinen Spaß, weil sie sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlen“, sagt Jörg Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen. So glaubt etwa ein Drittel der Eltern, nicht gut genug lesen beziehungsweise vorlesen zu können. „Die Hälfte hat in ihrer eigenen Kindheit zu Hause keine Vorleseerfahrungen gemacht“, sagt Maas. „Ihnen fehlt das Vertrauen, dass Vorlesen jederzeit und überall ohne Übung möglich ist.“

Gute-Nacht-Geschichten fördern die Entwicklung der Kinder

Mehr als ein Viertel der Eltern findet außerdem, dass Vorlesen nicht wichtig ist. Einige Mütter und Väter (25 Prozent) beschäftigen ihre Kinder lieber mit „modernen Medien“ wie dem Smartphone oder dem Tablet. Dabei fördert die Gute-Nacht-Geschichte vor dem Schlafgehen, so die Ergebnisse zurückliegender Studien der Stiftung Lesen, die persönliche Entwicklung der Kinder, regt die Fantasie an und erweitert den Wortschatz.

Etwa vier von fünf Kindern, denen mehrmals die Woche vorgelesen wurde, fällt das Lesenlernen später in der Grundschule leichter. Jugendliche, denen in der frühen Kindheit viel vorgelesen wurde, greifen außerdem mit mehr Freude zu Büchern. Jörg Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen, appelliert daher an alle Eltern: „Lesen Sie Kindern vor – regelmäßig, am besten jeden Tag!“