Essen. In seinem neuen Roman „Oberkampf“ rückt Hilmar Klute das Paris des Jahres 2015 ganz nah. Er spielt vom „Charlie Hebdo“-Anschlag bis zum Bataclan.
So zufällig Hilmar Klutes Roman „Was dann nachher so schön fliegt“ beginnt, mit dem er in diesem Jahr um ein Haar den Literaturpreis Ruhr gewonnen hätte, so präzise abgezirkelt ist sein neuer: „Oberkampf“ beginnt mit dem Tag des islamistischen Attentats auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ und endet damit, dass der Protagonist am Abend des 13. November 2015 das Bataclan betritt: „Als der Kassenwart die Tür hinter ihm schloss, hatte Jonas zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, endgültig angekommen zu sein.“
Mit dieser bitterbös-schwarzen Ironie endet die Beschreibung von zehn Monaten, in denen Jonas die Biografie des alten, erfolglosen, aber umraunten Schriftstellers Richard Stein schreiben soll, der seit Jahrzehnten seinen Mangel an Erfolg mit einem Bohéme-Leben in Paris kompensiert. Eigentlich ein unsinniges Unterfangen, weil Richard Stein ohnehin nie über etwas anderes geschrieben hat als sich selbst, seine Skrupel und Schwierigkeiten beim Schreiben, seine Skrupel und Schwierigkeiten im Leben.
Vermittlungsagentur für „Kluge Köpfe“
So karikaturhaft der über achtzigjährige Richard Stein gezeichnet ist, so sehr vermag er doch, Menschen in seinen Bann zu ziehen – erst recht Jonas Becker, der seine Vermittlungsagentur „Kluge Köpfe“ für prominente Redner in Berlin geschlossen hat, bevor sie pleite gehen konnte, nachdem die Geschäfte eine Weile floriert hatten. Er betrieb sie gemeinsam mit seiner Freundin Corinna, auch von ihr hat er sich getrennt, ebenso wie von seinem gesamten Besitz, abgesehen von den wichtigsten Büchern.
In Paris, an der Rue Oberkampf (benannt nach einem deutschstämmigen Fabrikanten des 18. Jahrhunderts) scheint Jonas sich suchen zu wollen, sich neu erfinden – aber bevor das passieren kann, beginnt er eine seltsam routinierte, aber intensive Affäre mit Christine, einer deutlich jüngeren Archivarin, mit er er sich in ihrer Mittagspause zum Sex trifft, bevor sie essen gehen. Überhaupt wird viel gegessen und getrunken in diesem Roman, auf französische (Lebens-)Art, versteht sich. Jonas taumelt von Christine zu Richard Stein und wieder zurück, ohne aus seinen präzisen (Selbst-)Reflexionen je nennenswerte Konsequenzen zu ziehen.
„Je suis Charlie“-Welle und Zeitgeisterseherei
Immerhin kommt es zu schön geschriebenen, ironischen Einsichten von federnder Leichtigkeit wie: „Der Lifestyle war unmerklich an die Stelle der Tugend gerückt, von der man in ferneren Jahrhunderten gedacht hatte, sie werde einem auch noch im Grab von Nutzen sein. Heute ließen sich die Leute in Hipsterklamotten einsargen, selbst alte Männer liefen ja wie augenzwinkernde Kunstfiguren herum.“
Und auch zur „Je suis Charlie“-Welle wahrt Jonas eine skeptische Distanz – und hält daran fest, dass die Karikaturen der Zeitschrift eigentlich viel zu grobschlächtig und unterkomplex waren als dass sie die Kunstfreiheit für sich hätten beanspruchen dürfen. Unter der Oberfläche seiner eleganten Zeitgeisterseherei dringt Klutes Roman zu Grundproblemen unserer Zivilisation vor, erforscht Grenzen und Paradoxien der Freiheit in Zeiten ihrer mutmaßlich maximalen Geltung.
Selbst-Mythisierung eines Schriftstellers
Überhaupt gewinnt der Roman einen angenehm federnde Abstand zu allem, seinen zentralen Figuren wie auch dem Literaturbetrieb, der immer noch genügend Ressourcen hat, um Figuren wie Richard Stein hervorzubringen, die es hinbekommen, dass der Mythos um sie wichtiger wird als die letztlich beschränkten, erfolglosen Werke, die sie verfassen. Hilmar Klute ist eher das Gegenteil davon.