Mülheim/R. Im Mülheimer Theater an der Ruhr geht es endlich wieder los: Thomas Köcks „Antigone“-Bearbeitung holt den Stoff in die Realität des Jahres 2020.
„Es sind unsere Toten, wir haben uns schon vor Jahrhunderten für sie entschieden“, verteidigt Antigone (Dagmar Geppert) ihre gesetzwidrige Aktion. Am Strand sind Leichen angeschwemmt worden; sie hat die Toten in die Stadt geschleppt und beharrt auf dem Recht, ja auf der Pflicht, sie beisetzen zu lassen. Für den politischen Führer Kreon (Fabio Menéndez) gehen die fremden Körper, diese Fremdkörper, niemanden in seinem Hoheitsgebiet etwas an. „Trauere um wen Du willst – nicht wo Du willst!“
In der Sophokles-Bearbeitung „Antigone. Ein Requiem“ von Thomas Köck sind sie unsichtbar und doch allgegenwärtig, die Bootsflüchtlinge, die samt ihrer Träume und Hoffnungen im Mittelmeer ums Leben kamen und die am Theater an der Ruhr bereits in den verstörenden Stück „Boat Memory“ beklagt werden. Simone Thomas intensive, zu Recht auf die Kraft der Sprache setzende Inszenierung ist die angemessene Fortschreibung des Themas.
Der Mülheimer Dramatikerpreis-Träger Thomas Köck dreht Sophokles’ Drama
Bei Köck, der 2018 und 2019 den Mülheimer Dramatikerpreis erhielt, hat Antigone nicht länger ihren Bruder Polyneikes, den Staatsfeind, gegen den Willen und Befehl Kreons beigesetzt. Zur Diskussion steht jetzt der Umgang mit all den angeschwemmten Namen- und Nutzlosen. In einem Fernsehstudio (Bühne: Adriana Kocijan) haben sich die nun andere Namen tragenden Charaktere der antiken Tragödie zu einer Polit-Show zum Thema Menschenrechte, Werte und Wesen der Demokratie eingefunden. Mit Kreon als Politmanager und Moderator in Personalunion. Unvereinbar prallen die Positionen aufeinander; der streng sachliche Ton macht die Diskussionen umso beklemmender.
Antigone, empathische und humanitär denkende Vertreterin einer (machtlosen) Zivilgesellschaft, sieht sich mit Hinweis auf die Kolonialgeschichte, auf die Ausbeutung der Dritten Welt, aber auch mit Blick auf den Klimawandel in der moralischen Verantwortung. Diese Toten sind auch die ihren. Kreon dagegen, der gern abbricht und einen Musik-Gast ankündigt, wenn seine Gesprächspartnerin zu unbequem argumentiert, schwebt eine neoliberale Ordnung vor, die den Staat von jeder sozialen Verantwortung befreit. Gesetz und Ordnung bewachen die Werte, und diesen Werten steht er „wertneutral“ gegenüber.
Daddeln auf dem Smartphone
Zwischen diesen Kontrahenten steht der Chor, zu dem sich das Ensemble immer wieder formiert: kommentierende, fragende oder einfach nur desinteressierte Bürger wie Antigones Schwester Ismene (Gabriella Weber), die mit Hingabe auf dem Smartphone daddelt und sich „nicht an die Geschichte binden“ will.
Nach schier endloser Corona- und Theaterpause ist diese „Antigone“ ein erlösendes Geschenk.
Nächster Termin: 2.10. (19.30 Uhr), Tel. 0208 - 5990134