Mülheim. Hausherr Roberto Ciulli lässt am Mülheimer Theater an der Ruhr mit „Boat Memory“ Hoffnungen untergehen – und den Hass hohe Wellen schlagen.

Gleich den Rippen eines verendeten Tieres, dem die Wüste zum Verhängnis wurde, ragen die Spanten des kleinen Holzbootes auf. Die lebensfeindliche Wüste ist eine Wasserwüste. Eingebettet in ein flaches Bassin, steht das Schiffs-Skelett im Zentrum eines beklemmenden Abends am Theater an der Ruhr. Hausherr Roberto Ciulli und Chefdramaturg Helmut Schäfer erzählen in „Boat Memory“ in Textfragmenten und Gedichten vom Schicksal der unzähligen in Libyen gen Europa aufgebrochenen „Bootsflüchtlinge“, deren Träume und Hoffnungen im Mittelmeer versanken. Die Theatercollage ist zudem den geistigen Entwicklungen, den rechten Umbrüchen in Europa auf der Spur und zeigt an, wie sich die anfänglich ruhige See der Empathie inzwischen vielerorts in einer Welle aus Hass und Rassismus bricht.

Ausgangspunkt sind die Aufzeichnungen einer italienischen Forensikerin

Wie fasst man die Hoffnungen, die Erfahrungen, das unsägliche Leid der Flüchtlinge in Worte? Am besten gar nicht. Wenn sich zu Beginn acht namenlose Opfer-Gestalten dem Wrack nähern und eine gefühlte Ewigkeit in Schweigen verharren, dann ist es gerade diese Stille, die unüberhörbar schreit. Dieser Schrei wird verstärkt durch die schließlich im Moment der Havarie aufklingenden, immer hektischer werdenden Schreckenslaute fernab jeder verständliche Sprache. Allmählich brechen Einzelne aus dem Chor der Chronisten aus, zu dem sich das Ensemble immer wieder formt. Es sind Stimmen der Verzweiflung, die in so schlichten wie ergreifenden Worten von Fluchtmotiven berichten, den Träumen, davon, dass man in der Heimat „nicht mehr auf den Himmel hoffen“ wollte, „der nicht antwortet“. Später geht es um die Folter- und Internierungslager in Libyen oder um die libysche Küstenwache, an die Europa zunehmend die Rettung der Flüchtlinge delegiert hat.

Ausgangspunkt für „Boat Memory“ sind die Aufzeichnungen einer italienischen Forensikerin. Cristina Cattanco versuchte 2015, geborgene Ertrunkene zu identifizieren und ihnen so, wie Ciulli sagt, „ein Stück Würde zurückzugeben“. Einer dieser Schiffbrüchigen ohne Gesicht war ein 15-Jähriger, der als Beweis für sein Potential sein exzellentes Schulzeugnis wasserdicht in die Weste eingenäht hatte. Das Klagelied, in dem der Chor die Bestnoten des Jungen in allen Fächern besingt, gehört zu den eindringlichsten Momenten des Abends.

Der Chor der Mahner wird zum Chor der Schuldzuweiser

Je mehr sich die Collage vom Geschehen 2015 löst und das Westeuropa heute in den Blick nimmt, desto mehr wird der Chor der Mahner zum Chor der Schuldzuweiser. „Was habt ihr euch überhaupt gedacht, als ihr losgezogen seid“, schallt es den Opfern entgegen und „kein Christenmensch wird weinen über euer Los, keine Regierung wird eure Fahne hissen“. Ein Europa von Viktor Orbán (Ungarn) und Matteo Salvini (Italien) scheint da auf, doch es sind nur alte Ressentiments, die neue Blüten treiben. Wenn Roberto Ciulli, der seine Narrenkappe gelegentlich abnimmt und zum seriösen Politiker mutiert, zum Schluss ein erschreckend heutig wirkendes Redemanuskript über minderwertige Völker und Rassen abliest, dann wird der rechte Umbruch in einen historischen Kontext gestellt. Die Texte stammen aus Hitlers „Mein Kampf“.