An Rhein und Ruhr. Projektkünstler Jochen Gerz verantwortete mit „2-3 Straßen“ eines der teuersten Projekte des Kulturhauptstadtjahres 2010. Übrig blieb wenig.
Dies ist auch eine persönliche Geschichte. Vor zehn Jahren habe ich an einem der großen Projekte der Kulturhauptstadt 2010 teilgenommen. „2-3 Straßen“ hieß das Projekt des Künstlers Jochen Gerz. Die Idee: In sozialen Brennpunkten sollten Künstler einziehen, Autoren zumeist, die in erster Linie jeden Tag schreiben sollten. Und durch Projekte für und mit den Menschen des Stadtteils diesen zum besseren verändern sollten.
Mit diesem Anspruch war der renommierte Projektkünstler Jochen Gerz, heute 80 Jahre alt, damals angetreten: als „soziale Skulptur“ sollten 78 neue Bewohner in drei soziale Brennpunkte des Ruhrgebiets ziehen, nach Duisburg-Hochfeld in die St. Johann-Straße, nach Mülheim ins Hochhaus Hans-Böckler-Platz 7/9, unweit vom Hauptbahnhof und nach Dortmund an den Borsigplatz.
Menschen aus anderen Schichten, aus anderen Städten, sogar aus anderen Ländern sollten täglich einen Text schreiben und mit den Menschen in den Quartieren zusammen leben, um so die soziale Wirklichkeit zu beeinflussen und womöglich zu verändern.
Mit 1,5 Millionen Euro einesder teuersten Projekte
„2-3 Straßen“ war, mit einem Etat von 1,5 Millionen Euro (die heute nicht mehr denkbare, mietfreie Überlassung von 56 Wohnungen an die Künstler und Autoren noch nicht eingerechnet), eines der teuersten Projekte des Kulturhauptstadtjahres. Geblieben ist davon zumindest in Duisburg und Mülheim – nichts: Bis auf zwei bis drei Ausnahmen sind die „Künstlermieter“ schnell wieder weggezogen.
Am Dortmunder Borsigplatz jedoch hat sich das Projekt „Machbarschaft Borsig 11“ als Nachfolger etabliert. „Wir hatten das Glück, dass uns der Vermieter auch in den Jahren danach noch entgegen gekommen ist“, erzählt Volker Pohlüke, damals für das Projekt aus Süddeutschland gekommen und heute noch Dortmunder.
Heute gibt es ein Aktionsbüro in der Dortmunder Nordstadt, wenn nicht gerade Corona das soziale Leben lähmt, versucht ein Team aus mehreren ABM-Kräften und Freiwilligen mit Projekten, Hausaufgabenhilfen und sozialer Arbeit den Lebensalltag der Bewohner zu verbessern. Hier halfen anfangs auch einige der Projektteilnehmer aus anderen Städten mit, berichtet Pohlüke. „Sie hatten nicht das Gefühl, dass an den anderen Standorten ihre Arbeit willkommen war“, erzählt er.
Eine These, die Davide Brocchi unterstreicht: Dass von „2- 3 Straßen“ in der Nordstadt etwas geblieben ist, hält er eher für glücklichen Zufall als für eine logische Konsequenz des Kunstprojekts. Brocchi, damals Sozialforscher an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, ist mittlerweile 50, lebt in Köln. und tut dort das, was auch das Projekt „2-3 Straßen“ zu tun vorgab: Er forscht und berät Akteure in und um Wohnquartiere, in denen es darum geht, die Lebensqualität zum Besseren zu verändern. Das Wichtigste, so Brocchi: Bewohner befragen, ihre Bedürfnisse ernstnehmen, sie auf den Prozess mitnehmen.
Völlig anders der Ansatz des Kulturhauptstadtprojekts. Er musste scheitern, so Brocchi: Jochen Gerz, so Brocchi, hat das Pferd schlicht vom falschen Ende her aufgezäumt. „Keiner fragte die Anwohner, ob die Ausstellung in ihrer Straße stattfinden dürfe“, in Duisburg seien sogar Kooperationsanfragen von lokalen Bürgerinitiativen abgewiesen worden, obwohl es keine nachvollziehbaren Gründe dafür gab.
Aus Dortmund wird ähnliches berichtet. Zweitens: „Die Entscheidungen wurden vor allem von denen getroffen, die am wenigsten in den Straßen waren und kaum in Kontakt mit den Anwohnern traten. Bei den Entscheidungen wurde der Medienwirkung manchmal mehr Aufmerksamkeit als der Partizipation der Bewohner geschenkt“, so Brocchis Studie über das Projekt.
Beispiel: Das Konzert der Duisburger Philharmoniker in der St. Johann-Straße. Die Bewohner dort wurden per Aushang informiert. „Die erste Botschaft, die man auf diesem Aushang wahrnimmt, ist die große Oberüberschrift: Vollsperrung der Straße“. Es folgen Hinweise darauf, dass Autos abgeschleppt würden. Irgendwo im Kleingedruckten dann der Hinweis: „Sie sind herzlich eingeladen.“ Ergebnis: Es kommt und lauscht die übliche kulturbeflissene Klientel, die sich mit sanftem Grusel in den sozialen Brennpunkt begibt – Anwohner hingegen nehmen kaum Teil.
Außendarstellung wichtiger als Evaluation
Brocchi bekam den Auftrag zu der Projektstudie erst mit großem zeitlichem Verzug. Sein Plan, Anwohner, Besucher und Teilnehmer vor, während und nach dem Projekt zu befragen, scheitert daran, dass zunächst das Geld für die Studie besorgt werden muss. Erst im August 2010 ist es da, Brocchi nimmt die Arbeit auf. „Dabei hat Jochen Gerz sinngemäß gesagt: Die Wissenschaftler sind wie Satelliten, die beobachtend um das Projekt kreisen.“
Doch die Satelliten sehen nur, was sie sehen sollen. „Gerz hat mich fast jeden Tag angerufen, um mir zu erklären, mit wem ich reden soll und mit wem nicht.“ Klar wird sehr schnell: Die Außendarstellung des Projektes ist um ein vielfaches wichtiger als eine tatsächliche wissenschaftliche Evaluation.
Die Projektleitung legt dem Wissenschaftler entsprechend Knüppel in den Weg. Brocchi möchte eine Liste mit Kontaktdaten aller Teilnehmer, bekommt aber nur die Hälfte der Namen genannt. „Gründe und Kriterien dieser Vorselektion konnte das Forschungsteam nicht in Erfahrung bringen“, heißt es in dem Dokument.
Viele sind keine „aktiven Teilnehmer“ mehr, obwohl sie weiter mitarbeiten
Als die Forscher auf Teilnehmer stoßen, die nicht auf der Liste stehen, erfahren beide zu ihrer Überraschung: Viele werden nicht mehr als „aktive Teilnehmer“ geführt, obwohl sie weiter mietfrei wohnen, weiter am gemeinsam zu schreibenden Buch und an Projekten in den Straßen arbeiten – die aber nicht alle den Segen der künstlerischen Leitung erfahren haben.
Dennoch gelingt es Brocchi knapp hundert Teilnehmer, Anwohner und Besucher des Kunstprojektes zu befragen. Doch erst jetzt, zehn Jahre danach, fasst sich ein Forscher ein Herz und veröffentlicht seine Studie zu „2-3 Straßen“, die damals nicht erscheinen durfte, wie er sagt.
Seine damalige Chefin, Kunsthistorikerin Prof. Dr. Annette von Hülsen-Esch, bestreitet dies: Die Studie sei veröffentlicht worden. Der von ihr genannte Link zur Studie führt allerdings nur zu einer englischsprachigen Projektskizze. Öffentlichkeitswirksame Evaluierungen eines Millionenprojekts sehen anders aus. Jochen Gerz ließ die Bitte um eine Stellungnahme unbeantwortet. Er lebt seit vielen Jahren in Irland. Künstlerhonorare sind dort weitgehend steuerfrei.