Duisburg/Dortmund/Mülheim. .

Autor Stephan Hermsen hat an dem Kulturhauptstadt-Projekt „2-3 Straßen“ teilgenommen und zieht eine enttäuschte Bilanz. Eine Geschichte von Widersprüchen, Ausgrenzung und Frustration.

Dies ist eine Geschichte der Widersprüche. Und zu Anfang habe ich gedacht, es liege an mir, ich verstünde diese Widersprüche einfach nicht. Hätte vielleicht nicht begriffen, was genau Jochen Gerz, einer der berühmtesten Projektkünstler der Gegenwart, mit seinem Projekt “2-3 Straßen” gewollt hat. Seit Januar nehme ich teil, jetzt endet das Projekt – und die meisten der 78 Mitteilnehmer, die ich spreche, sind frustriert und enttäuscht. Warum?

Rückblende. Zum Jahresbeginn ziehen die 78 Teilnehmer in Wohnungen in Duisburg-Hochfeld, am Dortmunder Borsigplatz und in einen der Hochhaustürme am Mülheimer Hauptbahnhof. Die Kaltmiete wird ihnen für ein Jahr erlassen. Dafür werden sie Teil einer ungewöhnlichen Ausstellung und sollen – das ist die einzige Bedingung - regelmäßig Texte schreiben.

Das Drehbuch zum Leben

Die Ausstellung – sie soll nicht mehr und nicht weniger zeigen als das normale Leben. Aber sie soll das Leben, vor allem der alten Bewohner, auch verändern. Durchs Schreiben, Beschreiben und Mitschreiben lassen der alten Bewohner des Viertels oder des Hochhauses.

Doch wir sollten vor allem, so verstand ich es, alle das Drehbuch zu unserem eigenen Leben schreiben, nicht nur passive Konsumenten sondern aktive Gestalter des eigenen Daseins werden.

Der Trick dabei: Keiner weiß, was der andere schreibt, die Texte landen streng chronologisch in einem riesigen Buch, das im März erscheinen wird, eine Textflut doppelt so umfangreich wie die Bibel, drei Kilo schwer, aber vermutlich so gut wie ungelesen – außer in literatur- und kunsthistorischen Seminaren.

Der erste Widerspruch schlich sich bereits im Januar ein: der Projektkünstler Jochen Gerz kam und redete, und das einzige, was mir danach klar war, war dies: Schreiben allein genügt nicht. Um die 2-3 Straßen zu verändern, muss etwas geschehen. Aber was? Ausstellungen, Lesungen, Konzerte? Zu sehr normaler Kulturbetrieb. Kaffeetrinken und Spielenachmittag? Zu sehr normales Leben. Konkrete Anregungen, gar Anweisungen? Fehlanzeige. Vielleicht sind wir zur Freiheit verdonnert.

Verdonnert jedenfalls werden viele. Aus der ersten Runde Einzelgespräche (ein einzelner Teilnehmer und mehrere Mitarbeiter des Projektbüros plus Jochen Gerz) im Februar kommen viele Teilnehmer so frustriert, ernüchtert und beschädigt heraus, dass die Mülheimer für eine Woche einen Schreibstreik ausrufen. Das Projektbüro gelobt Besserung in der Kommunikation und Betreuung.
Aber es bleiben Widersprüche: Wie macht man das, wenn die Einladung an die alten Bewohner zum Mitschreiben nicht einfach im Briefkasten liegen soll? Was tun, wenn man selbst und auch die anderen Bewohner froh sind, die Tür hinter sich zu zumachen und ihr Privatleben zu haben? Nicht jeder will immer ein gesellschaftliches Wesen sein.

Wo Unklarheit blüht, wächst schnell Frust. Und Jochen Gerz lässt eines immer deutlicher durchblicken: Wir Teilnehmer sind mit allem, was wir tun, jederzeit in Frage zu stellen, durch ihn, den Künstler. Der aber lässt sich nicht in Frage stellen. Kunst ist eben kein Mehrheitsprojekt. Freiheit der Kunst heißt, das müssen die Teilnehmer bitter erfahren: Der Künstler nimmt sich die Freiheit zu bestimmen, was Kunst ist. Argumentieren muss er nicht. Anordnen reicht.

Ab Mitte des Jahres geht Gerz noch weiter. Er selektiert. Es gibt gute und böse Teilnehmer. Gute, mit denen er weiterarbeiten will, womöglich übers Jahr hinaus und denen ein Weiterwohnen zum ermäßigten Preis in Aussicht gestellt wird. Viele derer, die fraglos weitermachen, bekommen bezahlte Nebenjobs, dürfen Besucher durch die so genannte Ausstellung führen, werden an Medien als Interviewpartner vermittelt.

Gute Gründe für den Erfolg

Wer nicht fraglos mitmacht, erfährt nichts mehr, wird ausgegrenzt. Die Projektbüros in den 2-3 Straßen informieren nur noch die guten Teilnehmer. Und: Ja, ich war auch draußen. Warum, weiß ich nicht, ich habe ja nur durch Zufall erfahren, dass ich draußen bin. Obwohl ich an einigen Projekten teilgenommen habe – über das regelmäßige Schreiben hinaus, nachdem übrigens nie jemand fragte. Aber wer das Widersprechen nicht lassen konnte und das Fragenstellen, ist lästig. Antworten gab es übrigens nie und auch nie eine Begründung des Rauswurfs für all jene, die draußen waren. Nicht versetzt, und das ohne blauen Brief oder gar ein Zeugnis.

Im Branchenmagazin „Informationsdienst Kunst“ behauptet Gerz, die Kritiker hätten sich eben eher zur Kritik als zum Mittun berufen gefühlt. Widerspruch, Euer Ehren! Mein Eindruck ist: Gerade die Teilnehmer mit eigenem Kopf und eigenen Ideen waren im Wege.

Gerz übrigens hat gute Gründe, das Projekt als Erfolg zu feiern. Es ist auch ein Erfolg. Meiner Meinung nach aber nicht wegen ihm, sondern trotz ihm: Es bleibt rund ein Drittel der Teilnehmer: 28 von 78. 13 allerdings haben während des Jahres die mietfreie Wohnung geräumt, um woanders wieder Miete zu zahlen, aber frei vom Projekt zu sein.

Im Hochhaus blüht jetzt ein Kräutergarten im 18. Stock, in Dortmund ist eine Werkstatt entstanden und eine Bibliothek, in Duisburg wächst ein Gemeinschaftsgarten. Viele alte Mieter genossen es, ein Projektbüro zu haben, da gab es Kaffee und freundlichen Menschen. Die Straßen hatten sich verändert, das muss man Jochen Gerz zugestehen.

Doch auch die alten Bewohner interessieren ab der zweiten Jahreshälfte nicht mehr so sehr. Nun wird die Außenwirkung immer wichtiger. Ein Medienbüro wird eingeschaltet, die Projektbüros in den drei Städten, die vorher die Teilnehmer unterstützten, veranstalteten selbst eine Aktion nach der anderen. Plötzlich hält die Hochkultur Einzug in den 2-3 Straßen: mit dem Dortmunder U, mit den Duisburger Philharmonikern, mit dem Museum Folkwang. Dabei hatte Gerz anfangs aus seiner Langeweile über den etablierten Kunstbetrieb keinen Hehl gemacht.

Vielleicht funktioniert Kunst im Jahr 2010 so. Aber vielleicht sollte man das mit Teilnehmern besprechen, wenn man sie im Wortsinne teilnehmen lässt. Das aber schien Gerz nicht zu wollen. Und das ist der große Widerspruch, an dem viele der 78 Teilnehmer zu knabbern haben.

Im Informationsdienst Kunst ist Gerz deutlich geworden: „Meinen Sie etwa, dass der Maler im Atelier seiner Farbe oder seinem Modell mehr Raum gibt?“, sagt er dort. Mit anderen Worten: Wir 78 waren nur Material, ein paar Farbtupfer auf der Palette des großen Meisters.

Vielleicht klärt Gerz irgendwann diesen Widerspruch auf und sagt: Genau das wollte ich testen. Ob sich die Teilnehmer wehren, wenn man sie wie Objekte behandelt -- gerade in einem Projekt, das sich die Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben hat.

Für mich und viele andere Teilnehmer wäre dies der einzige Satz, der diesen Widerspruch zwischen Diktat des Künstlers und Projekt zur demokratischen Teilhabe auflösen könnte.

Sonst ist Jochen Gerz an einem anderen Widerspruch gescheitert: Er hat Autoren gerufen -- aber es kamen keine Schreibmaschinen. Sondern Menschen.

Interview mit Jochen Gerz: „Zwei bis drei Widersprüche“