Duisburg. . Jochen Gerz wollte keine Museumsschau. Lieber schrieb er einen Text über sein Leben. Jetzt klebt dieser auf den Glaswänden des Lehmbruck-Museums.

Seit 15 Jahren macht Jochen Gerz keine Ausstellungen mehr. Der Konzeptkünstler setzt bei Projekten wie „2-3 Straßen“, das im Kulturhauptstadtjahr in Duisburg, Dortmund und Mülheim lief, oder dem 2015 in Bochum eingeweihten „Platz des europäischen Versprechens“ auf Mitwirkung, er regt Menschen zur öffentlichen Autorenschaft an oder dazu, ein geheimes Versprechen abzugeben. Da sei es „ein kreatives Missverständnis“ gewesen, als er vor drei Jahren vom Duisburger Lehmbruck-Museum um eine Ausstellung zu seinem Lebenswerk gebeten wurde, sagt der 78-jährige Künstler über die neue Ausstellung „The Walk“, die laut Untertitel „keine Retrospektive“ ist. Gemacht hat er jedenfalls nichts, was man in Kisten packen kann.

Das Museum als Träger eines eigenen Textes

Jochen Gerz hat das Museum zum Träger eines eigenen Textes gemacht, in dem er auf die Jahrzehnte seiner Lebenszeit zurückblickt: Zeitgeschichte von 1940 bis nach 2010. Die riesige Glasfassade des Museums ist mit den roten Buchstaben seines Textes beklebt, jedes Fenster thematisiert eine Dekade Zeitgenossenschaft, vieles bezieht sich auf die Folgen der Nazi-Zeit, auf Krieg und Völkermord und auf den Aufbau einer neuen Zivilgesellschaft in Deutschland; es geht um Migration und Mobilität, um neue Technologien, um Europa, um die Zukunft – Ende offen.

Rund um die Fassade der großen Glashalle des 1964 eröffneten Museums wurde ein Steg errichtet. Auf diesem Gerüst kann man in einer Höhe von drei bis fünf Metern von außen den Gerz-Text lesen. „The Walk“: Ein 100-Meter-Gang durch die Geschichte, der persönliche Erinnerungen wecken mag und das Museumsgebäude samt Umgebung aus einer neuen Perspektive erleben lässt. Nicht zuletzt ist hinter den Buchstaben die Kunst im Museum zu erkennen, die Gerz unbedingt vom Sockel auf Augenhöhe bringen möchte.

Dem Kriegskind Jochen Gerz hat der Bau dieses Museums früh imponiert. Wenn er als Gymnasiast aus dem zerbombten Düsseldorf mit der Straßenbahn nach Duisburg gefahren sei, habe man sehen können, „was richtig kaputt heißt – so, wie man es sich nicht vorstellen kann“. Es habe den großen Mut gegeben, auf diesen Trümmern „ein Haus aus Glas“ zu errichten.

„Zu wenige Couragierte“ in der Gesellschaft

Jetzt bringt er mit „The Walk“ Kriegsflüchtlinge ins Museum. 50 Geflüchtete hospitieren seit vier Wochen für die gesamte Ausstellungszeit, am Ende sollen sie Texte über ihre Erfahrungen verfassen.

Gerz will in die deutsche Gesellschaft wirken, in der er „zu wenige Macher, zu wenige Couragierte“ sieht. Auf diese Gesellschaft komme etwas zu. „Nicht der Immigrant, sondern sie selbst“, sagt er tief besorgt über die Gegenwart. „Ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst habe: vor der Vergangenheit oder vor der Zukunft.“

Jochen Gerz war Duisburg früh verbunden

Jochen Gerz, der 1940 in Berlin geboren wurde, über 40 Jahre in Frankreich gelebt hat und seit 2007 nach Irland gezogen ist, war Duisburg früh verbunden. Nicht nur als Schüler – schon 1975 hatte er eine Ausstellung in Duisburg, 2006 schließlich unter dem Titel „Tausch der Tabus“ eine Arbeit über Religionen und ihre wechselseitige Öffnung inszeniert. Dass er nach vielen kunstkritischen Werken jetzt mit „The Walk“ das Lehmbruck-Museum und damit die wichtige Rolle von Kunst und Kultur in der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt, wirkt auch versöhnlich.

„The Walk – Keine Retrospektive“ wird am 23. September um 15 Uhr im Lehmbruck-Museum an der Düsseldorfer Straße in Duisburg eröffnet.

Das Projekt bleibt bis zum 5. Mai 2019; für den Steg gilt freier Eintritt (Zugang vom Skulpturenhof, maximal 30 Personen).