Mülheim. .

Als Journalist Stephan Hermsen über das Kulturhauptstadt-Projekt „2-3 Straßen“ las, hat er es zuerst nicht richtig verstanden. Also ist er kurzerhand in den elften Stock des Mülheimer Hochhauses gezogen - und verwandelte sich in einen Künstler.

Man ist ja neugierig. Das ist als Journalist sozusagen Berufskrankheit. Als ich von dem Kulturhauptstadt-Projekt „2-3 Straßen“ las, hab ich es erst mal nicht so richtig verstanden. Genau deswegen hat es mich interessiert. Und daher wohne ich jetzt in Paris. Also: Eigentlich wohne ich in Mülheim, Hans-Böckler-Platz 7. Und das auch nur vorübergehend.

Aber der Reihe nach. Was ich von dem Projekt begriffen habe, ist dies: Der Künstler, Jochen Gerz, vor allem für seine Konzeptkunst berühmt, will so etwas wie eine soziale Skulptur schaffen. Dafür hat der 69-Jährige, wie der Name schon sagt, zwei, drei Straßen der Kulturhauptstadt bekommen, mit vielen leeren Wohnungen, und die hat er quasi verschenkt. Wer wollte, konnte dort mietfrei wohnen. Für ein Jahr. 1457 Leute haben sich beworben, am Ende zogen 78 ein.

Was - neben den Lebensumständen der einzelnen - vielleicht auch mit dem kleinen Haken zu tun hat, den Jochen Gerz eingebaut hat. Nun, Jochen Gerz erzählt gern viel über seine Kunst, er scheut nur klare, programmatische Aussagen. Ich habe ihn jetzt ein-, zweimal getroffen und ihn, fürchte ich, einmal etwas schockiert, weil ich mit dem Müllbeutel in der Hand fragte, wo denn in diesem Hochhaus verflixt nochmal der Müllschlucker ist.

Jedenfalls will Jochen Gerz, sofern ich ihn verstanden habe, die Gesellschaft verändern. Erstens, weil er findet, dass es der Demokratie schadet, wenn wir alle bloß konsumieren statt kreativ zu sein und, wörtlich genommen, mitschreiben an der Gemeinschaft.
Und zwotens, kleinräumig gedacht, indem wir das Leben ändern in den Quartieren. Gerz hat natürlich Orte für seine Projekte bekommen, die nicht die 1a-Wohnlage sind. Das ist für die Wohnungsbauunternehmen auch eine Chance, vielleicht neue Mieter zu gewinnen und die Leerstandsquote zu senken. In Duisburg-Hochfeld, in Dortmund am Borsigplatz und in Mülheim. Ich wohne in der vertikalen Straße. So kunstvoll heißt jetzt das Haus Hans-Böckler-Platz 7/9. Sie kennen es vermutlich, es ist kaum zu übersehen: Neben Mülheims kleinem Hauptbahnhof stehen diese vier großen, schwarz-weißen Türme. Und der östlichste von allen trägt die Hausnummer 7/9.
Und meine Etage heißt Paris, denn die Etagen in diesem schönen Haus tragen die Namen der europäischen Hauptstadt, der Höhenlage über dem Meer nach geordnet. Oben muss also Madrid sein und ganz unten ist Amsterdam und ziemlich mittendrin, da ist Paris.

Statt der Seine die Ruhr, Union-Kino statt Louvre

Von Paris aus blickt man über ein Einkaufszentrum mit dem Union-Kino, kleiner Ersatz für den Louvre, sieht Rathausturm und Ruhrbrücke statt Pont-Neuf, Minarett und Müllverbrennungsanlagen statt Moulin Rouge. Doch würde es in diesem Jahr irgendwann einmal aufklaren, hätte ich bestimmt einen schönen Blick auf den Duisburger Kaiserberg und hinaus in den Niederrhein.

Und - verändern wir Künstler das Leben in unserer merkwürdigen Straße mit Concierge im Erdgeschoss und Schwimmbad unterm Dach? Nun, eines ist mir in den Aufzügen zwischen Amsterdam und Madrid schon aufgefallen: Wir Neuen im Haus schauen uns an. Wenn im Aufzug jemand Hallo sagt und einen anschaut, gehört er ziemlich sicher zu den Gerz-Autoren. Zudem hat man ja eine gute Einstiegsfrage: Schreibst du auch? Denn das ist der Haken an der Sache. Wer gratis wohnen will, muss schreiben, jeden Tag. Für Jochen Gerz.
Man kann übrigens auch als Gast mitschreiben. Es soll Tage der offenen Tür geben, wo Besucher gucken können, wie man lebt und schreibt. Aber bisher, ganz ehrlich, haben sich fast nur Journalisten für das Projekt interessiert. So wie ich. Ich wollte ja auch nur für ein paar Tage in die Journalistenwohnung einziehen, ursprünglich.

Aber dann hat man mich gefragt, ob ich nicht jeden Tag schreiben könne. Kann ich. Und vielleicht mitmachen wolle? Wollte ich. Und so schreibe ich jetzt - und niemand kann es lesen, nicht einmal ich selbst. Zunächst verschwinden die Texte vom Bildschirm eines eigenen kleinen Computerprogramms und landen in einem großen Speicher, eine Lektorin guckt, ob irgendwer gegen das Grundgesetz verstößt, die Frage der Rechtschreibung wiegt da weniger schwer, heißt es.
Das Programm ist so gestrickt, dass man seinen Text nicht rauskopieren oder für sich selbst sichern kann. Das ist das Gruselige für einen Journalisten: Auf einen Knopf drücken - und der Text verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Oder vielleicht doch nicht - es soll ja schließlich ein Buch werden. Eine Art 2010-Ulysses. Jedenfalls, wenn ich Jochen Gerz richtig verstanden habe...