Dortmund. Durch Corona steht vieles still - auch das reiche Chorleben in NRW. Tausende Sänger trifft es so hart wie die Chorleiter. Ein Interview.
Im echten Leben, da klingt und singt es aus jeder Kehle, wenn Bettina Lecking aus ihren Klienten alles herausholt. Aber die vielen hundert Stimmen, die zum Beruf einer Chorleiterin gehören, sie sind seit Monaten verstummt. Und weil auch solche Kunst nach Brot geht, prüft die Corona-Krise nicht nur unsere reiche Chorlandschaft sondern auch Frau Lecking und hunderte ihrer Kollege hart. Lars von der Gönna sprach mit ihr.
Sie sind freischaffende Künstlerin. Wie frei fühlen Sie sich derzeit?
Fast zu frei. Zu wenig von der Arbeit, die ich gerne machen würde, kann ich gerade tun.
Erleben Sie das zum ersten Mal?
Ja, meine Selbstständigkeit hat mir nie Sorgen gemacht, weil ich alle paar Wochen einen Anruf bekam, ob ich als Chorleiterin zur Verfügung stehe.
Ihre Arbeit hat immer mit anderen Menschen zu tun. Wann wurde klar, was Corona für Sie bedeutet?
Meine Gesangsklasse war gerade in der Hauptprobe für ein großes Bühnenstück. Wir waren quasi fertig als der Lockdown kam. Dann musste alles ganz schnell gehen. Wir sind noch ein einziges Mal in den Probesaal gefahren, um alles wegzuräumen – um dieses große Projekt für ein Jahr hinzulegen.
Damals, im März, hielten Sie ein Jahr womöglich für großzügig pragmatisch kalkuliert. Inzwischen ist man sich da nicht mehr sicher.
Genau. Hinzu kommen die sogenannten Lockerungsregelungen, die den Chören wenig helfen. Was erlaubt ist, ist unpraktikabel. Chor-Auftritte finanzieren sich durch Einnahmen. Rechnet ein Chor mit 200 verkauften Karten, ist ein Saal mit 50 Abstand haltenden Zuschauern etwas, das vielleicht ein subventioniertes Theater aushalten kann, aber kaum ein freier Chor. Etwas, das ihn finanzieren soll, kostet!
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Sie werden Ihre unternehmerische Unabhängigkeit oft genossen haben. Nun ist es die traurige Freiheit, unverschuldet nichts mehr zu verdienen. Ihre Honorare sind ja mit Leistung verbunden...
Selbstständig zu sein, ist ein großer Segen. Aber die Befindlichkeit meiner Gesangsschüler und meiner Chöre hängt mit meiner eigenen nun besonders stark zusammen. Momentan kann die Beziehung zu den Chören noch so gut sein, die Chorgemeinschaft fehlt dramatisch. Das hat nicht nur Folgen für das Singen, auch soziale.
Der Chor als Familie...
Zum Beispiel. Gerade ältere leiden extrem darunter, dass es keine Treffen gibt. Ich habe mit vielen per Mail Kontakt gehalten. Es war herzzerreißend zu sehen, wie viele sich um andere gekümmert haben. Aber auch, wie schlimm einige in die Isolation gerieten.
Doch zu Ihnen: Haben Sie Fördermittel vom Land beantragt?
Nein. Ich habe Kollegen, deren Einbrüche deutlich schlimmer sind. Erstens habe ich Chöre, die darauf bestehen, mich weiter zu bezahlen. Die wissen ja, dass ich fähig bin, aber nicht darf. Machen Sie das mal einem Arbeitsamt klar: dass man will, aber nicht kann. Wie lange das geht, wissen wir nicht. Wenn erste Chormitglieder ihren Beitrag wegen Kurzarbeit nicht mehr bezahlen können, wird es eng – und das verstehe ich gut.
Langsam beginnen einige Chöre wieder, draußen zum Beispiel - mit viel Abstand
Also keine Fördermittel?
Vieles traf ja auf unseren Beruf gar nicht zu. Außer ein paar Fahrtkosten gibt es keine großen Betriebskosten – und Aufträge nachzuweisen, die in Zukunft gekommen wären, ist für freie Musiker nicht so leicht. Aber: Ich habe als Selbstständige von Anfang an Rücklagen gebildet. Ich lebe nicht sehr anspruchsvoll. Ein Selbstständiger muss Durststrecken einplanen, wenn er es sich leisten kann.
Wir unterschätzen vielleicht, wie viele singende Menschen von Corona betroffen sind. Es gibt in NRW unglaublich viele Chöre – und entsprechend viele Chorleiter. Wahrscheinlich bilden Sie und Ihre Sängerinnen und Sänger quantitativ der größte Anteil unter allen Pandemie-Leidenden in der Kunst.
Allein in Dortmund, der chorreichsten Stadt Deutschlands, gibt es 700 Chöre. Viele von denen, auch die Laien, sind extrem leistungsbereit. Sie haben sich ja Profi-Musiker wie mich gesucht, um ein bestimmtes Niveau zu erreichen. Das liegt jetzt brach, stagniert mindestens, wenn es nicht zurückgeht. Mancher fragt sich, ob er sich und seine Familie durch singen gefährdet. Manche zerreißt das fast. In riesigen Hallen proben, wie es Profi-Chöre teils machen, ist für Laien nichts. Mit meinen Gruppen taste ich mich vorsichtig heran: draußen oder in kleinen Gruppen und großen Räumen.
Glauben Sie, dass die Chöre selbst bedroht sind?
Unbedingt! Wie viele Corona überstehen, kann ich nicht sagen. Bei sehr jungen Chören kann es einschlafen, weil die Regelmäßigkeit fehlt. Bei Älteren entweder, weil sie noch länger Angst haben werden, selbst wenn wir einen Impfstoff haben – aber auch weil sie den einen Abend pro Woche, der jetzt der Familie gilt, vielleicht behalten wollen.
Hat Sie eine Begegnung in dieser Zeit besonders berührt?
Ja,meine ältesten Schülerin lebt im Altenheim, sie ist Ende 80. Ich unterrichte sie einmal im Monat. Das war im März erst mal vorbei. Sie saß plötzlich 24 Stunden in ihrem Zimmer. Die Tochter hat am Telefon mit ihr gesungen. Es hat lange gedauert, inzwischen darf ich mit der alten Dame in den Speisesaal mit Maske. Aber sie darf singen, Bach und Arvo Pärt! Mit ihrer Tochter singt sie die Barcarole aus Hoffmanns Erzählungen. Hinreißend!
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ZUR PERSON
Seit ihrem 18. Lebensjahr leitet Bettina Lecking (*1968) Chöre. Die gebürtige Dortmunderin ist examinierte Sängerin und Gesangslehrerin.
Die Tochter eines Kirchenmusikers hat neben ihren Chören zahlreiche Gesangsschüler im Ruhrgebiet.