Berlin. Singen ist in der Pandemie gefährlich geworden. Doch ohne Proben und Auftritte können sich viele Chöre nicht mehr lange finanzieren.
Die Insekten sind laut, die Flugzeuge, die über die Zitadelle in Berlin-Spandau ziehen, sind es auch. Nur die Sängerinnen klingen noch ein bisschen verhalten. „Der Ton muss bis an die Wand kommen!“, ruft Chorleiter Thomas Hennig und rudert mit den Armen, in seinem Rücken die Burgwand der Zitadelle Spandau.
Chorprobe unter Corona-Vorzeichen: Die Frauenstimmen des Berliner Oratorienchors haben sich an diesem Sommertag in der Zitadelle eingefunden. Wenn die Töne zu Beginn ein bisschen zögerlich kommen, dann auch, weil man sich monatelang nicht gehört hat.
Erst wenige Tage zuvor hatte der Berliner Senat erklärt, dass Chöre jetzt wieder proben dürfen – draußen zumindest. In geschlossenen Räumen ist das gemeinsame Singen in der Hauptstadt nach wie vor verboten. Noch sind die Reihen des Oratorienchors spärlich besetzt. Es sei ein kleiner Teil des gesamten Chores, der zu den Proben draußen komme, sagt Hennig. Viele hätten Angst.
Singen in Corona-Zeiten: Nicht jeder Chor wird die Krise überstehen
Singen ist mit Corona gefährlich geworden. Vor allem in geschlossenen Räumen verbreiten sich die Viren schnell, von Alt zu Tenor, von den Solisten zur Begleitung am Klavier. Die Chöre, die zu den Ersten gehörten, die ihre Aktivitäten einstellten, sind deshalb auch unter den Letzten, die sie wieder aufnehmen.
In anderen Bundesländern als Berlin ist das Singen inzwischen zwar auch drinnen wieder erlaubt, unter Auflagen. Trotzdem sorgt man sich bei der Dachorganisation, dem Deutschen Chorverband. Rund 60.000 Chöre sind laut Verband in der Bundesrepublik aktiv, professionell, aber auch in Kirchen, Schulen, freien Ensembles.
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Wie viele davon wegen der derzeitigen Situation ihre Aktivität einstellen werden, lasse sich nur schwer schätzen, heißt es vom Verband. „Die Sorge, dass nach dieser Zeit nicht alle Chöre bestehen bleiben, ist durchaus vorhanden.“
Denn das Singen lebe von der Nähe. Damit aus vielen Stimmen ein harmonisches Ganzes wird, müssen die Sängerinnen und Sänger einander hören, sich aufeinander abstimmen können. „Man kann sich nicht hören, der Klang entwickelt sich nicht“, sagt auch Thomas Hennig über die Proben draußen. „Es ist anstrengend und kompliziert.“
Corona-Zwangspause führt zu finanziellen Problemen bei Chören
Doch es ist nicht nur der Frust über schwierige Probenbedingungen, der die Chöre beschäftigt. Die Zwangspause bedeutet für viele auch finanzielle Sorgen. Durch die Absage aller Konzerte brechen wichtige Einnahmen weg, fehlende Proben bedeuten für die häufig freiberuflich arbeitenden Chorleiter auch fehlende Einnahmen.
Viele Vereine hätten sich hier „sehr solidarisch“ mit ihren Chorleiterinnen und Chorleitern gezeigt, sagt der Dachverband. Doch durch fortlaufende finanzielle Verpflichtungen und fehlende Einnahmen seien einige Ensembles selbst in Liquiditätsschwierigkeiten geraten. Und je länger die Pause dauert, desto schwieriger wird die Lage.
Wann Konzerte und ein regulärer Probenbetrieb wieder überall möglich sein werden, hängt vom tatsächlichen Gefahrenpotenzial ab.
Mehr Aerosole werden ausgestoßen: Singen ist gefährlich
Dass Singen gefährlicher ist als nur der Aufenthalt oder das Sprechen in geschlossenen Räumen, das wisse man jetzt, sagt Dirk Mürbe, Direktor der Klinik für Phoniatrie und Audiologie an der Berliner Charité. Gemeinsam mit einem Team der TU Berlin hat er erforscht, wie sich Aerosole beim Singen tatsächlich in geschlossenen Räumen verbreiten. „Da zeigt sich, dass beim Sprechen mehr Aerosole ausgestoßen werden als beim Atmen und beim Singen deutlich mehr als beim Sprechen“, sagt er.
Auch Lautstärke und Dauer würden eine Rolle spielen. „Wenn man sehr laut singt, stößt man mehr Aerosole aus, als wenn man sehr leise singt.“
Müssen die Chöre also absehbar stumm bleiben? Nicht unbedingt, sagt Mürbe. Es müsse adressiert werden, dass gemeinsames Singen „gerade in geschlossenen Räumen“ mit einem höheren Gesundheitsrisiko verbunden sein kann.
„Aber das muss nicht auf ein Pauschalverbot hinauslaufen, sondern auf individuelle Abwägungen“, so der Wissenschaftler. Über die Zahl der Menschen im Raum, die Dauer des Gesangs, Größe und Belüftungsmöglichkeiten könne man viel steuern.
Chöre können Corona-Hilfen beantragen
Bei den Chören blickt man deshalb nun auf die Politik – und erhofft sich klare Regeln. Bundesweit einheitliche Leitlinien zu den Hygieneanforderungen wären eine große Hilfe, heißt es vom Dachverband. Im Bund verweist man auf die Zuständigkeit der Länder.
Die Bundespolitik helfe mit einem Programm zur Förderung von Musikkultur, sagt Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) unserer Redaktion. Darin könnten alle privat finanzierten Chöre Hilfe beantragen. „Diese Situation ist für viele Chöre eine echte Bewährungsprobe“, so Grütters. „Ich hoffe, dass unter den gebotenen Auflagen bald alle Chöre wieder aktiv sein werden.“
Das hofft auch Chorleiter Hennig. Es gehe nicht darum, „auf Teufel komm raus“ Proben durchzusetzen, sagt er. „Aber wir brauchen eine Perspektive.“
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