Essen. Nach Freud zeigen Trauernde eine "schwere Abweichungen vom normalen Lebensverhalten". Leiden und Tod haben unsichtbar stattzufinden, um den Spaß anderer nicht zu verringern. Die öffentliche Trauer um Robert Enke zeigt, wie sehr uns eine private Leidkultur fehlt.

Die Königin der Herzen, der King of Pop – der Torwart. Der Tod ist ein mediales Meisterwerk, jetzt auch aus Deutschland; die Massen beweinen Lady Di wie Michael Jackson wie Robert Enke. Doch wer die Inszenierung „Der Tod und die Medien” ein Trauerspiel nennt, verkennt: Tausende nahmen am Sonntag dort Abschied von Enke, wo sie ihm auch im Leben begegneten – auf dem Platz. Und die Tränen waren echt. Sie galten (auch): uns selbst.

Robert Enke starb, weil er nicht mehr funktionieren konnte. Seine Trauergemeinde demonstrierte gegen eine Gesellschaft, in der Gefühle keinen Platz haben (klingt kitschig, was?). In der psychische Leiden, ja, totgeschwiegen werden. Depression ist so ein Leiden. Trauer – ein anderes.

Schwere Abweichungen vom normalen Lebensverhalten

Leseprobe

Castorp stirbt aus Trauer um seine Frau

„Sein Geist war verstört und geschmälert seitdem; in seiner Benommenheit beging er geschäftliche Fehler . . .; im übernächsten Frühjahr holte er sich bei einer Speicherinspektion im windigen Hafen die Lungenentzündung, und da sein erschüttertes Herz das hohe Fieber nicht aushielt, so starb er trotz aller Sorgfalt, die Dr. Heidekind an ihn wandte, binnen fünf Tagen." Aus: Thomas Mann, „Der Zauberberg"

Trauernde zeigen „schwere Abweichungen vom normalen Lebensverhalten”, schilderte Sigmund Freud bereits 1917 den „manisch-depressiven Zustand” nach großem Verlust. Heute wissen wir: Der „Stressfaktor” verändert Hormon- wie Immunsystem und macht, dass Menschen ängstlich, ruhelos werden – oder sich selbst wie tot fühlen.

„Der Schmerz sargt uns ein/in einem Haus ohne Fenster” heißt es bei Hilde Domin. Manchmal sterben wir gar darin, so wie Hans Hermann Castorp in Thomas Manns „Zauberberg” nach dem Verlust seiner Frau. Ein einzigartiger Tod. Denn so selten wir uns im Leben Leidgedanken zugestehen, so selten spiegelt uns die Literatur als Helden der Traurigkeit. Eher findet noch die Poesie passende Worte. Oder die Popmusik eine transzendente Zeile auf Verstorbene, von Campino („wir haben irgendwann wieder jede Menge Zeit”) oder Herbert Grönemeyer („Habe dich sicher/in meiner Seele”) in professioneller Gefasstheit vorgetragen. Zuweilen gibt auch der Film der Trauer ein Gesicht, wie dies der wunderbaren Charlotte Rampling in Ozons „Unter dem Sand”: Als ihr Mann im Meer verschwindet, verliert sie sich selbst im Wahn.

Der Spaß ist uns Pflicht

Wie undiszipliniert! „Sichtbares Trauern erinnert uns an den Tod, es wird als unnatürlich empfunden, als Unvermögen, die Situation zu meistern”, weiß US-Autorin Joan Didion, die den Verlust ihres Mannes im Bericht „Das Jahr magischen Denkens” verarbeitete – gegen den Trend.

Auf den Beginn der 30er Jahre datieren Historiker den Moment, da der Tod „peinlich und verboten” wurde und folglich „ausgelöscht” aus unserem Leben. Bereits 1965 beschrieb Sozialanthropologe Geoffrey Gorer, wir unterlägen einer „ethischen Pflicht, Spaß zu haben” – einem „Imperativ, nichts zu tun, was den Spaß anderer verringern könnte”. Ein Satz, der fortlebt.

Denn Leidkultur im Herbst 2009 bedeutet nicht nur, dass die US-Handelskette Walmart Särge im Internet verkauft (Modellbeispiel: „Amerikanischer Patriot”) und Facebook das Konto Verstorbener „in den Gedenkzustand versetzt”. Leidkultur 2009 bedeutet auch: Der Deutsche Bestatterverband ruft in aller Existenzangst zum Wettbewerb („Wer nicht wirbt, stirbt!”); eines der Plakate preist eine Sterbeversicherung an und zeigt einen Fußballer: „Finale – Bestimm' Dein Endspiel selbst!” Was uns angesichts aktueller Nähe vom Freistoß zum Freitod makaber scheint, ist doch nur Zeichen der Zeit: Wir amüsieren uns mit dem Tode – damit er bloß nicht ernst macht.

Das jenseits wird zum furchtsamen Wunsch

Trotz hartnäckigem Klopfen – Wir sind es: Leid, Tod und Trauer! – lassen wir die heimsuchende Dreieinigkeit nicht mehr ein in unser Leben. Wir sind es: leid. Die Angst ist zu groß. Wenn zwei Drittel aller Deutschen (Studien zufolge) ans Jenseits glauben, muss man angesichts steigender Kirchenaustritte annehmen, dass dies eher furchtsamer Wunsch denn im gelernten Glauben gefestigte Gewissheit ist.

So macht nicht die böswillige Mediengesellschaft, sondern eine hilflose Trauerkulturgemeinde sich das Leiden der Anderen zu eigen: Die Inszenierung in aller Öffentlichkeit ist, so paradox es scheint, der letzte geschützte Raum, der Gefühlsausbrüche ohne Gesichtsverlust gestattet.