Essen. Kein Ort der Hektik - In der Stadtbücherei stöbert es sich entspannt zwischen eigenen Erinnerungen und fremden Biographien. Der Eintritt ist frei, die Lektüre vor Ort kostenlos und für manche Besucher beginnt mit dem Betreten der Stadtbücherei eine Zeitreise.

Entweder ist man regelmäßig in der Stadtbücherei oder nie. Wer nie da ist, war es zuletzt vor 20, 30, 40 Jahren. In dem Alter, als der Büchstapel, der mit nach Hause sollte vom Nabel bis zur Nasenspitze reichte. In dem Alter, als man zehn Bücher in einer Woche schaffte, in dem man Bücher regelrecht fraß, in dem man nicht einmal sicher war, ob Kalle Blomquist, Perry Clifton und die drei Fragezeichen erfunden waren. Gern gewesen wie sie wäre man sowieso.

Eine Sommerstunde in der Stadtbücherei ist also vielleicht eine Zeitreise – zu Linoleumplatten, der strengen Bibliothekarin, die natürlich längst in Pension ist, zu Signaturen, die man nie richtig verstand.

Draußen ist eine Baustelle. Der Bagger baggert, der Presslufthammer hämmert. Die Fenster der Stadtbücherei sind geschlossen. Der Baulärm ist leise. Die Bibliothek ist leise. Ein Mann von vielleicht 55 Jahren geht an einen der Beratungstische und sagt: „Ich suche was Spannendes!” Solche Sätze wird es geben, solange es Stadtbüchereien gibt. Die Frau am Beratungstisch erhebt sich würdevoll. Sie weiß, dass das jetzt nicht schnell geht. Aber die Stadtbücherei ist kein Ort der Hektik. Diese Sommerstunde ist Seite für Seite Entschleunigung.

Gegenüber wartet die Welt

In der Stadtbücherei kann man lesen, was man will. Besser noch: was man nie lesen wollte. In Mark Medlocks Biografie (Titel: „Ehrlich”) reicht ein Satz („Ich schwitzte mir die Seele aus dem Tanktop”) um zu wissen, dass man mit dem Ignorieren alles richtig gemacht hat. Im Biografie-Regal regiert das Leben der anderen. Hillary Clinton, Konrad Adenauer, Ilja Richter, Uschi Glas. In der Bücherei ist es wie überall: Man kann sich seine Nachbarn nicht aussuchen.

Gegenüber wartet die Welt. Wussten Sie von „Niederkalifornien”? Die Erdkunde-Abteilung stillt Fernweh mit 20 Metern Reiseliteratur: Chinas Osten, Gambia, „Unterwegs zwischen Kaukasus und schwarzem Meer”. Es gibt aber auch was übers Sauerland.

In einer Sommerstunde Stadtbücherei kann man beliebig flanieren und dabei vom Glauben abfallen („Das Jesus-Komplott”), die „Kleine Geschichte der SPD” studieren, (kommt die große noch?), im Telefonbuch von Würzburg nach Namensvettern suchen. Oder man blickt ins Regal un weiß, dass man nichts weiß Höhere Mathematik, vier Bände, Stuttgart 1974.

Moltke und die Hexe

Kosten

Bis zur Nasenspitze

Stadtbücherei. In jeder Stadt. Eintritt frei, Aufenthalt oder Lektüre vor Ort kostenlos. Bei Ausleihe Jahresgebühr; sie liegt gewöhnlich unter dem Preis eines gebundenen Buches. Nach Entrichtung ist Buchmitnahme bis zur Nasenspitze möglich.

In dieser Sommerstunde darf man in Schundbücher schauen, ohne sich zu schämen. Versuchen wir's: Augen zu, Daumenkino-Technik und Stop. „Als Semjonow herantrat, blickte er auf ihren schönen, glänzenden Körper”. Treffer in Konsalik „Liebesgrüße aus der Taiga”. Noch besser: „Marianne wollte nicht lauschen, dennoch blieb sie wie festgewurzelt neben der Küchentür stehen”. Ein Heimatroman. In anständigen Heimatromanen gibt es immer eine Marianne.

Die Sommerstunde in der Stadtbücherei ist geflogen. Beim Weg nach draußen frage ich mich, warum „Das Herz des Reviers” auf dem Trödeltisch liegt, kaufe aber doch für 50 Cent „Moltkes Briefe an seine Braut und Frau”. Ich lese mich fest: ein preußischer Militär – und sowas von nett. An der Tür fragt mich ein Kind, wie ich sein Buch finden würde. Der Titel ist mir neu: „Auch Hexen brauchen Ferien.”