Essen. . „VI“, das neue Album von Sido, vereint all die vielen Gesichter, die der Rap-Star in seiner Karriere gezeigt hat. Zeit für einen Rückblick.

„Wenn mich das Rampenlicht blendet, dann denke ich dran und mache mir klar wie schnell sich alles ändern kann“, rappt Sido auf seinem sechsten, am Freitag erscheinenden Album „VI“. Vor rund zehn Jahren war er noch der Elternschreck mit der verchromten Totenkopfmaske. Inzwischen hat er sich das Studio mit Peter Maffay oder Helge Schneider geteilt und läuft mit Ohrwurmsongs wie „Bilder im Kopf“ auf Dauerschleife im Radio. „Zu nett für das Ghetto; und zu ghetto für die Spießer“, sagt Sido selber über sich. Trotzdem ist er der erste deutsche Straßenrapper, der in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.

Eine wunderliche Entwicklung, wenn man sich verinnerlicht, wie groß der Aufschrei 2004 war, als das „Super intelligente Drogenopfer“ (so das Kürzel Sido ausgeschrieben) mit seinen Milieustudien von den Westberliner Blockhaussiedlungen („Mein Block“) den Gossen-Rap in die Charts transportierte. Für die Medien war er der „Rüpel-Rapper“, für die Bundesprüfstelle jugendgefährdend und für die Kinder auf dem Schulhof der neue Superheld, die comichafte Maskerade inklusive.

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Wann genau Sidos Zäsur vom Abseitigen zum A-Promi zu verorten ist, lässt sich da nicht genau sagen. Zwar trennte sich Sido 2009 auf seinem vierten Album „Aggro Berlin“ symbolisch von seiner Maske, an der seine bisherigen Leitmotive „Geld, Sex, Gewalt und Drogen“ hafteten. Aber seine Entwicklung hin zu ausverkauften Konzerten in der Gruga Halle ist eine sukzessive.

Mainstream gewöhnte sich an ihn

In Film und Fernsehen war er mit jedem Jahr häufiger zu Gast – von der Teilnahme bei Stefan Raabs Wok-WM zum Jurymitglied bei der Castingshow „Popstars“ bis hin zur eigenen TV-Show gegen Politik-Verdrossenheit („Sido geht wählen“) und dem eigenem Kinofilm („Blutzbrüdaz“). Der Mainstream gewöhnte sich an ihn; und er ging auch mit seiner Musik weiter auf das Massenpublikum zu.

Spätestens seit der sanften 2009er Single „Hey Du“, in der ganz offenherzig seine DDR-Vergangenheit in Ost-Berlin thematisiert wird, kann eine Sido-CD eingeschoben werden, wenn die Eltern noch anwesend sind. Der Grund für diese Entwicklung ist eine ganz einfache: Sido wurde reifer und mit ihm auch seine Musik. Dass das nicht selbstverständlich ist, sieht man etwa an dem nicht minder bekannten Rap-Star Bushido, der weiterhin auf äußerst explizite Texte setzt.

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Den endgültigen Schritt zum Erwachsensein ging Sido mit seinem letzten Album „30-11-80“. „Nie wieder Rumgemecker, das überlass’ ich lieber jungen Rappern - weil ein Erwachsener, der über Jugendprobleme rappt, peinlich ist“, heißt es darauf. Geschichten aus dem Leben als Ehemann und Papa, geschrieben auf pathetischem Stadion-Pop mit Marius Müller-Westernhagen oder melancholischen Liebesliedern mit Mark Forster. „Trau dich raus, und schau mal über’n Tellerrand“ – nicht nur eine Textpassage, sondern ein musikalischer Grundsatz.

Harte Beats und Pop-Hymnen

Mit seinem neuen Album „VI“ versucht Sido jetzt all die Facetten einzufangen, die er in seiner Karriere gezeigt hat. Sido schwelgt textlich genauso in der Vergangenheit wie er auf sein aktuelles Leben blickt. Es gibt wieder mehr harte Beats, aber auch typische Hitparaden-Momente: pure Rap-Songs wie „Ackan“ stehen direkt neben Pop-Hymnen wie „Astronaut“ mit Andreas Bourani, Sidos erster Nummer-Eins-Single.

Der deutsche Astronaut Alexander Gerst soll Sido zu seinem Hit inspiriert haben – „weil von dort oben alles so klein und nichtig wirkt“, erzählt er. Eine Feststellung, die das ganze Album bestimmt. Denn neben all dem Altbewährten versucht sich Sido auch an etwas Neuem: Er wagt den Blick auf das große Ganze und widmet sich den ungelösten Problemen der Zeit: Welthunger, Billigwahn in der Textilindustrie, Flüchtlingsströme. „Flüchtlinge, die Kurs nehmen auf Garten Eden, aber nie mehr in ihrem Leben einen Hafen sehen“, rappt er etwa.

Nicht in der Entwicklung stehen bleiben

Dass er dabei so tut, als wäre er der erste, der über derartige Probleme spricht („es wird Zeit, dass es endlich jemand ausspricht“) darf man da getrost als etwas übertriebene Behauptung abtun. Aber man sollte Sido eins zugutehalten: Zwar ist er als einziger den Weg vom Gangsta- zum Volksrapper gegangen, aber er denkt nicht daran, in seiner Entwicklung stehen zu bleiben. Stattdessen zeigt er wieder ein neues Gesicht von sich, und zwar ein weltpolitisches.