Essen. Die Kulturhauptstadt hat eigentlich keine Chance. Nutzen kann sie sie dennoch - wenn alle Beteiligten ein bisschen gelassener werden.
Ganz gleich, wie groß das Echo auf das Kulturhauptstadtjahr ausfallen wird, eines steht jetzt schon fest: Die 2010-Macher werden alles falsch gemacht gemacht haben: Wenn die Großfeuilletons zwischen New York und Frankfurt lobesrauschen, wird man ihnen zwischen Dinslaken und Dortmund vorhalten, dass sie sich in Elitärem verzettelt und die Bevölkerung schnöde missachtet hätten.
Sollten der multikulturelle Kaffeeklatsch auf der gesperrten A 40 und das vieltausendkehlige Singen auf Schalke auch nur annähernd soviel Staunen der Welt erwecken, wie es sich Fritz Pleitgen erträumt, dann wird das Naserümpfen derer groß sein, die vom Kulturhauptstadt-Programm erlesene Qualität und Tiefgang erwarten.
Der Spagat
Und selbst wenn dieser Spagat gelingen sollte, ist 2010 die Schelte sicher: Es werden all die zu schimpfen nicht aufhören, die intakte Turnhallen, erfüllte Stundenpläne und gut ausgestattete Bibliotheken für das Wichtigste im Kulturleben erachten und die nachhaltige Investitionen in die Bildung für relevanter halten als Fernseh-Minuten, Kreativ-Kongresse, Touristenströme, Marketing-Aktionen, Highlight-Geflacker und 2500 mehr oder minder spektakuläre Einzel-Events von Schachtzeichen-Ballons bis zur Sinfonie der 1000 in Gelsenkirchen.
Es bedarf nur geringer prophetischer Gaben vorherzusehen, dass manch Geplantes, Gewünschtes und sogar Zugesagtes nicht wird realisiert werden können - und nicht alles wird so schmerzlich vermisst werden wie die so dumm kaputtgewartete Abenteuerzeche „Zweite Stadt" auf Zollverein.
Fingerspitzengefühl und Prioritäten
Die Finanzkrise schlägt auch zu den Stiftungen durch, und es dürfte im Einzelfall nur schwer zu vermitteln sein, dass man Mitarbeiter entlässt und gleichzeitig, Bühnenprojekte sponsert. Das hätte dann nichts mit Kulturhauptstadtfeindlichkeit, Geiz oder mangelndem Regionalpatriotismus zu tun, sondern mit Fingerspitzengefühl und Prioritäten. Aber auch das wird ein Kritikgewitter auf sich ziehen.
Womöglich hat man dem Unternehmen Kulturhauptstadt von Anfang an zu viel Gewicht beigemessen. Erinnern wir uns: Lissabon hat das Promi-Jahr dazu genutzt, seine malerische Altstadt zu sanieren, Liverpool hat eine coole Dauerparty gefeiert und Cork die Welt damit überrascht, dass es überhaupt existiert. Weimar hat keinen neuen Goethe geklont, sondern sein Kanalsystem auf Vordermann gebracht. Fast alle Kulturhauptstädte (für die sich früher kein Mensch interessierte) haben die Chance ergriffen, städtebaulich, atmosphärisch nach vorn zu kommen oder auch nur ein Fest zu feiern. Und blieben gelassen.
Wunde Revierseele
Allein das Ruhrgebiet bürdete dem Kulturhauptstadttum Lasten auf, die zuvor Generationen von Politikern, Ökonomen und Touristikern nicht gestemmt bekamen: Da soll die Kultur nicht nur heilen, was die Industrie zerstörte, da soll sie die Industrie selbst ersetzen. Da soll sie Touristen herbeizwingen, die gescheiterte Olympiabewerbung und den geplatzte Traum vom Metrorapid kompensieren und den Flickenteppich einen, auf dem sich 53 kommunale Fürstentümer etablierten. Und alles muss groß, groß, groß sein, immerzu im Weltmaßstab. Und möglichst neu und nie dagewesen. Als ob es provinziell wäre, regionale Perlen zu polieren und sich an Museen zu erfreuen, an funktionierenden Theatern und üppig wuchernden Festivals.
2010 soll die Klammer sein, die alles zusammenzwingt, aber auch die große Tube weiße Salbe für die arme Revierseele, die sich jahrzehntelang an Stahl und Rost, aber auch an Missachtung, Ignoranz und Dünkeln wundgerieben hat und sich vielleicht darum so aufplustert und jene Gelassenheit vermissen lässt, die wahre Kulturhauptstädte auszeichnet.
Ach ja, Wahlen gewinnen helfen soll sie auch noch, die Kulturhauptstadt 2010, und das möglichst schon 2009. Das kann nicht klappen. Glückauf!