Mülheim. . Mülheimer Theatertage: Yael Ronens großartiger Theaterabend „Common Ground“ erzählt vom Balkankrieg. Rebekka Kricheldorfs „Homo Empathicus“ hat hingegen jede Aggression überwunden.

Die Neunziger, die gehen so: „Wüstensturm“ im Irak und unsere Steffi in Wimbledon, der Bosnienkrieg, Erdbeben auf den Philippinen, Wirbelsturm in Bangladesch und Robbie Williams bricht mit Take That – in einer wilden Bild- und Ton-Flut spült eine beinahe schon vergessene Epoche von der Bühne herab. Die sieben Darsteller reißen sich gegenseitig das Mikro aus der Hand, übertrumpfen sich mit News, die unterlegt sind mit zeitgenössischer Popmusik.

Roter Stern Belgrad gewinnt gegen Bayern München, brüllt Aleksandar Radenkovic; da durfte er zum ersten Mal mit einer Magnum in die Luft feuern. Die Olympischen Spiele in Barcelona beginnen, ruft Vernesa Berbo; da verlässt sie in Sarajevo ihr Kellerversteck, tauscht einen Goldring gegen eine Autobatterie. Um im Fernsehen die Eröffnung zu sehen.

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Spätestens als die Nachrichtenflut abrupt mit dem Friedensabkommen von Dayton endet, wird die erste Ahnung zur Gewissheit: Unsere Neunziger sind nicht ihre Neunziger. Fünf der sieben Schauspielerinnen und Schauspieler kamen als Kinder oder Jugendliche aus Belgrad, Sarajevo, Zagreb nach Deutschland. Sie tragen Wunden, die der Theaterabend „Common Ground“ des Berliner Maxim Gorki Theaters zugleich freilegt und heilt: Es ist das Verdienst der in Berlin lebenden, israelischen Regisseurin Yael Ronen, ihre Geschichten zu einer verstörenden, berührenden Erzählung zu verweben.

Bemerkenswerte Darsteller

Bei einer Reise nach Bosnien, begleitet von einem Deutschen und einer Israelin (die vor allem für gewissen „Comic Relief“ sorgen), erkunden sie den „Common Ground“ ihrer Erinnerungen, die gemeinsame Basis ihrer Erfahrungen. Mateja Meded, deren Vater in Prijedor verschleppt wurde, und Jasmina Music, die ebenfalls aus Prijedor stammt und deren Vater „nicht so nette Dinge“ im Krieg getan haben sollte – das Erbe dieser Männer, die sie kaum kannten, bestimmt ihre Begegnung. Der Serbe Dejan Bucin übersetzt die Schilderung einer Frau, die von „den Serben“ vergewaltigt wurde. Jeder fühlt sich schuldig, jeder fühlt sich angegriffen, falsch verstanden – die Dynamik innerhalb der Gruppe ist wesentlicher Teil des Abends, und die Art, wie die Darsteller sich auf der Bühne öffnen, bemerkenswert.

Gemessen an der Intensität des Beifalls haben Yael Ronen & Co. den Publikumspreis in der Tasche. Zu wünschen wäre dieser gewaltigen Ensembleleistung auch der Dramatiker-Preis, allein: Ist dieses „Stück“ ein Stück, ist es eine reproduzierbare Textvorlage?

Ist der Gutmensch noch menschlich?

Eine Welt, in der es keinen Krieg gibt – wäre das nicht wunderbar? Die Menschen in Rebekka Kricheldorfs „Homo Empathicus“ leben jenseits aller Aggression. Wenn sie ihren Job verlieren, sind sie dankbar für „die spontane Chance zur Neuorientierung“. Werden sie sitzengelassen, lächeln sie: Man habe sich eben „emotional auserzählt“. Sterben heißt, „anderen, kleineren Lebewesen als Nahrung dienen“ und selbst das schlimmste Unglück lässt sie allenfalls eine kleine „Unausgeglichenheit“ verspüren.

Den Witz dieser freundlichen, geschlechtsneutral ausformulierten Welt treibt Erich Sidlers Urinszenierung am Deutschen Theater Göttingen in sorgfältig choreografierten Massenszenen auf die Spitze. Doch mag auch die Grundidee auf einer feinen Beobachtung beruhen – die gegenwärtige Sehnsucht nach einfachen, verletzungsfreien zwischenmenschlichen Begegnungen, die Verleugnung echter Regungen –, so läuft sie doch nach einer Weile ins Leere. Selbst das krachschlagende Ende, in dem ein Pärchen der alten, barbarischen Welt seine alkoholischen und gewalttätigen Probleme vorführt, mag den Zuschauer nicht mehr so recht aufrütteln.