Osnabrück. Über Jahrzehnte hat sich Prof. Volker Neuhaus mit Günter Grass beschäftigt. Im Interview erklärt er, warum Grass auch in Zukunft Leser fesseln wird.

Das Werk von Günter Grass wird nach Ansicht des Germanisten Prof. Volker Neuhaus auf Dauer zu den Klassikern der deutschen Literatur gehören. Der Vergleich mit Johann Wolfgang von Goethe und Thomas Mann sei voll berechtigt, sagte Neuhaus im Interview der Deutschen Presse-Agentur. Konkret nannte Neuhaus den Welterfolg, den Debütroman "Die Blechtrommel" (1959) über die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Novelle "Im Krebsgang", die das Leid von Millionen Deutschen im selbstverschuldeten Zweiten Weltkrieg zum Thema hat - am Beispiel des 1945 von einem russischen U-Boot versenkten Schiffs "Wilhelm Gustloff" mit mehr als 10.000 Menschen an Bord.

Nach "Grimms Wörter" und dem Gedichtband "Eintagsfliegen" hat Günter Grass gesagt, er werde kein Buch mehr schreiben. Er sei ausgeschrieben. Überraschenderweise hat er doch noch ein Werk nahezu vollendet - "Vonne Endlichkait". Es soll im Sommer posthum erscheinen. Haben Sie als langjähriger Grass-Herausgeber und -Vertrauter nähere Informationen, was die Leser erwarten dürfen?

Volker Neuhaus: Das hat er nie so gesagt. Er hat gesagt, kein größeres Prosawerk mehr beginnen zu wollen, da er nicht wisse, ob er die dafür erforderliche Frist von mehreren Jahren noch haben werde - zu Recht, wie sich jetzt leider gezeigt hat. Was den Charakter des neuen Werks angeht, sollte man einmal in das von der Grass-Stiftung herausgegebene Periodikum "Freipass" aus diesem Frühjahr blicken - da findet sich ein Vorabdruck aus dem neuen, noch von Grass komplett fertiggestellten und in seinem Graphic Design mitgestalteten Band.

Grass-Biograf Volker Neuhaus. (Foto: dpa)
Grass-Biograf Volker Neuhaus. (Foto: dpa) © dpa

Ist damit zu rechnen, dass sich im Nachlass von Grass noch weitere, bisher unveröffentlichte Manuskripte - Essays, Prosa oder Lyrik - befinden?

Neuhaus: In Grass' Schränke habe ich keinen Einblick. Der öffentlich zugängliche "Vorlass" im Archiv der Berliner Akademie der Künste gibt da den besten Eindruck von Grass' lebenslangem Umgang mit Ideen und Plänen.

In den Nachrufen auf Grass ist der Nobelpreisträger immer wieder in die literarische Ahnenreihe mit Goethe und Thomas Mann gestellt worden. Halten Sie diese Vergleiche für angemessen?

Neuhaus: Der Vergleich geht auf mich zurück: Goethe, Thomas Mann und Grass haben als einzige deutschsprachige Autoren alle drei mit einem Erstlings- und Jugendroman Weltruhm geerntet ("Werther", "Buddenbrooks", "Blechtrommel") und waren ab dann kontinuierlich einer weltweiten Resonanz sicher. Alle drei haben dann um ihr 50. Lebensjahr einen zweiten Riesenerfolg gehabt ("Wilhelm Meisters Lehrjahre" national, "Der Zauberberg", "Der Butt" weltweit) und sind danach noch bis über das 80. Lebensjahr hinaus sowohl dichterisch produktiv als auch international präsent gewesen. Das sind schlagende Parallelen.

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Grass selber hat gesagt, es wäre schon etwas, wenn zwei oder drei seiner Bücher auch in Zukunft gelesen werden, also von späteren Generationen. Wird Grass ein "Klassiker" der deutschen Literatur werden?

Neuhaus: Thomas Mann hat in einer Selbstreflexion aus Anlass des Nobelpreises einen französischen Autor zitiert, der Ruhm im Ausland sei so etwas wie der Nachruhm zu Lebzeiten. Wenn das stimmt, wovon ich als vergleichender Literaturwissenschaftler überzeugt bin, beantwortet sich die Frage von selbst.

Welche Grass-Werke haben das Zeug zum "Klassiker", und können Sie das bitte in bei den von Ihnen genannten Beispielen erläutern?

Neuhaus: "Die Blechtrommel" gilt jetzt schon weltweit als das wichtigste literarische Werk aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihre bruchlose Verschmelzung der größten europäischen Romantradition des Pikaroromans, der die Welt aus der Perspektive von unten und von ihrer Kehrseite her sieht und schildert, mit dem spezifisch deutschen Künstlerroman von Goethes "Wilhelm Meister" bis Thomas Manns "Dr. Faustus" zu einem Panorama des sehr "deutschen" 20. Jahrhunderts vom Kaiserreich bis zur Adenauerära in einer meisterlich instrumentierten Sprache, wie sie alle Grass-Werke kennzeichnet, hat einen Individual- und Gesellschaftsroman des für das 20. Jahrhundert repräsentativen "kleinen Mannes" geschaffen, der mit kaum einem anderen Werk der westlichen Weltliteratur vergleichbar ist.

"Das Treffen in Telgte" behält aus seiner kühnen und vom Leser zu leistenden Ineinsschau der streng historisch geschilderten berühmtesten deutschsprachigen Barockdichter mit der literarischen Situation nach 1945 einen Ehrenplatz, solange es überhaupt ein Bewusstsein von deutscher Literatur geben wird.

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Lässt Sie das Beispiel Heinrich Böll, immerhin der erste deutsche Literaturnobelpreisträger nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht zweifeln? Dessen Werk ist heute doch eher verblasst. Gehört am Ende nicht auch Grass - gemeinsam mit Siegfried Lenz und Böll - zu den großen Nachkriegsautoren, die in ihrer Zeit die wichtige Aufarbeitung der Nazizeit geleistet und der Tabu-geprägten Nachkriegsgesellschaft literarisch die Leviten gelesen haben - also am Ende ihre große Wirkkraft in ihrer Zeit hatten?

Neuhaus: Da verweise ich wieder auf die exorbitante Reaktion im Ausland auf "Blechtrommel" und "Butt". 1959 erschien dieser Roman in Deutschland, 1963 aus verlagsinternen Gründen als "The Tin Drum" in den USA und schon um 1970 waren mehr englischsprachige "Tin Drums" verkauft als deutsche Originale, wohl kaum allein wegen der Leviten für die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Das gilt erst recht für den "Butt" der dieses Thema im Grunde überhaupt nicht berührt.

Lassen Sie uns in die Gegenwart und Zukunft blicken: Wenn Sie heute einen jungen Menschen treffen, der noch nichts von Grass gelesen hat, welches Werk würden Sie ihm mit welcher Begründung als erstes zur Lektüre empfehlen?

Neuhaus: "Im Krebsgang" - wegen der konzisen - novellistischen - Knappheit, in der an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Vergnügungsdampfers à la "Traumschiff" deutsche Geschichte von den 1930er bis in die 1990er Jahre und mit ihr die Situation des Menschen überhaupt erzählt wird.

Und welche Begründung würden Sie - sagen wir im Jahre 2059 - also 100 Jahre nach dem Erscheinen der "Blechtrommel" - mutmaßlich als Leseanreiz anbieten können, wenn Klimawandel und Überbevölkerung der Erde massiv zugesetzt haben dürften, also andere Problem das Bewusstsein der Menschen mehr prägen als zu Zeiten von Grass?

Neuhaus: Wenn wir sehen, wie die Literatur und die Printmedien generell in den letzten 50 Jahren seit Erscheinen der "Blechtrommel" rasant in der damals nicht vorhersehbaren und heute noch längst nicht absehbaren digitalen Medienkonkurrenz an Bedeutung verloren haben und welch geringe Bedeutung sie einst vor 1770 hatten, können wir nur wünschen, dass es 2059 immer noch einige wenige Verrückte geben wird, die noch des Lesens kundig und begierig nach ungeheuren Geschichten sind, wie es denn einst gewesen ist, von der Jungsteinzeit des "Butt" bis zu den Zeiten einer "Blechtrommel" um 1940 und von "Ein weites Feld" um 1990. (dpa)