Essen. Er galt als der letzte Mahner und Streiter unter Deutschlands Dichtern. Nun ist Literaturnobelpreisträger Günter Grass mit 87 Jahren gestorben.

Als Günter Grass vor drei Jahren noch einmal „mit letzter Tinte“ ein langes Gedicht unter dem Titel „Was gesagt werden muss“ schrieb, war das nicht nur in Wahrheit ein Leitartikel mit einer polemischen Pauschalattacke auf die israelische Politik, es war ein Aufbäumen. Grass war der letzte bundesdeutsche Schriftsteller, der auch nach der Wende von 1989 noch gelegentlich mit aller ihm zu Gebote stehenden Macht des Wortes als politisch-moralische Instanz auftrat.

Doch diese Rolle hatte er eigentlich schon 2006 verwirkt, mit seinem 50 Jahre zu spätem Eingeständnis, in den letzten Kriegsmonaten freiwillig in die Waffen-SS eingetreten zu sein. In dem autobiografischen Buch „Beim Häuten der Zwiebel“ hieß es beinahe beiläufig: „Mein nächster Marschbefehl machte deutlich, wo der Rekrut meines Namens auf einem Truppenübungsplatz der Waffen-SS zum Panzerschützen ausgebildet werden sollte“. Weniger das Faktum selbst aber beschädigte den bis dahin allseits anerkannten politischen Streiter Grass als vielmehr die Tatsache, ein halbes Jahrhundert darüber geschwiegen zu haben. Ausgerechnet in der Rolle, in der sich Grass am liebsten sah, hatte niemand anders ihn demontiert als er selbst.

Internationaler Durchbruch mit der „Blechtrommel“

Mit 13 schon hatte er einen Roman unter dem Titel „Die Kaschuben“ begonnen. Die Romane und Erzählungen, die vom Kolorit seiner Danziger Heimat geprägt waren, wo er im Oktober 1927 als Sohn einer Kolonialwarenhändler-Familie zur Welt kam, blieben bis zum Schluss das Beste, was Grass zeitlebens geschrieben hatte, „Katz und Maus“ etwa, das bis heute Schullektüre ist, die „Hundejahre“, vor allem aber die „Blechtrommel“, jener Geniestreich von Roman, mit dem der Steinmetz und Grafiker Grass, der auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof und an der Akademie gelernt hatte, 1959 auf einen Schlag weltweit bekannt wurde. Ein Roman, der Schluss machte mit der nüchternen Diktion und der kargen Ästhetik der Nachkriegsliteratur, der den Faden der expressionistischen und avancierten Literatur eines Alfred Döblin wieder aufnahm, der mit der Nazi-Zeit abgerissen war – Weltliteratur.

Die Geschichte von Oskar Matzerath, der mit drei Jahren sein Wachstum einstellt und sich in Danzig und anderswo durch Krieg und Nazi-Herrschaft hindurchmogelt und der mit seinem klaren Blick für die Ungeheuerlichkeiten seiner Zeit zwangsläufig in der Irrenanstalt landet, war es am Ende auch, die ihm 1999 den letzten Literaturnobelpreis des 20. Jahrhunderts einbrachte. Er habe „in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet“, hieß es in der Begründung der Jury.

Einsicht in die eigene Fehlbarkeit

Grass, der nach seiner Zeit in Düsseldorf (wo er in der Altstadt auch im Lokal „Czikos“ als Waschbrettspieler einer Jazz-Combo auftrat) in Berlin und Paris lebte und wie nur wenige deutsche Autoren Weltläufigkeit entwickelte, war vielleicht im Ausland noch mehr eine Instanz als in der alten Bundesrepublik. Wie kaum ein anderer verstand er es, die Aura der Unfehlbarkeit, die den Dichtern und Denkern durch ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus abhanden gekommen war, wieder als Dienstkleidung anzulegen, in deren Taschen die Wahrheit steckte.

Auch interessant

In diesem Gewand hat sich Grass allerdings fast sechs Jahrzehnte lang um die Demokratie im Lande verdient gemacht, streitbar und manchmal auch verletzend. Es ist der beeindruckende Beweis dafür, dass einer seine Lehren gezogen hat aus den Fehlern und Verfehlungen der Vergangenheit. Und wer weiß, ob das Engagement des Demokraten Grass so vehement ausgefallen wäre, hätte es das Wissen um die eigene Fehlbarkeit nicht gegeben. Immer wieder nahm er Teil an Wahlkampf-Veranstaltungen und -Tourneen, bis hin zum Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder. Doch das Engagement für Willy Brandt, dessen Ostpolitik er vehement unterstützte, sollte sein erfolgreichstes bleiben.

Nur noch die Politik im Kopf

Ein Opfer dieser gern gespielten Rolle wurde mitunter der Literat Grass, abzulesen an Werken wie dem Weltuntergangsszenario „Die Rättin", in dem mehr Sendungsbewusstsein steckt als einem Roman gut tut. Gravierender noch im Falle seines literarischen Kommentars zur Nachwende-Zeit „Ein weites Feld", bei dem Grass meinte, als erster literarischer Diener seines Landes sei er verpflichtet, den vielfach erwarteten Roman zur deutschen Einheit zu schreiben. Mit der Figur „Fonty“ hatte Grass auf eine unfreiwillig komische Weise Fontane als literarischen Maßstab installiert und im gleichen Moment unterschritten. Es standen viele wahre Sätze in diesem Roman, aber als Erzählung war er gänzlich misslungen – und jede Kritik daran verstand Grass als politisches Manöver.

Günter Grass ist gestorben

Die Literaturwelt trauert um Günter Grass. Der Literaturnobelpreisträger...
Die Literaturwelt trauert um Günter Grass. Der Literaturnobelpreisträger... © dpa
... starb am 13. April in einer Lübecker Klinik. Grass...
... starb am 13. April in einer Lübecker Klinik. Grass... © dpa
... galt als einer der weltweit bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart. Lebenslang...
... galt als einer der weltweit bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart. Lebenslang... © dpa
... schaltete er sich leidenschaftlich in gesellschaftspolitische Debatten ein. Gleich sein erster, 1959 erschienener Roman...
... schaltete er sich leidenschaftlich in gesellschaftspolitische Debatten ein. Gleich sein erster, 1959 erschienener Roman... © dpa
Günter Grass kochte 1969 für seine Mitarbeiter, Journalisten und Politiker in Bonn.
Günter Grass kochte 1969 für seine Mitarbeiter, Journalisten und Politiker in Bonn. © dpa
...
... "Die Blechtrommel" geriet zum Welterfolg. 40 Jahre später... © dpa
... wurde Grass für sein Gesamtwerk mit dem Literaturnobelpreis geehrt.
... wurde Grass für sein Gesamtwerk mit dem Literaturnobelpreis geehrt. © dpa
In der Bundesrepublik engagierte sich Grass schon seit den 1960er-Jahren als Gesellschaftskritiker. Seit den 1960er-Jahren warb er auch in Wahlkämpfen für die SPD - unser Bild zeigt ihn im Jahr 1972.
In der Bundesrepublik engagierte sich Grass schon seit den 1960er-Jahren als Gesellschaftskritiker. Seit den 1960er-Jahren warb er auch in Wahlkämpfen für die SPD - unser Bild zeigt ihn im Jahr 1972. © dpa
Aus Protest gegen deren Asylpolitik trat er 1992 zwar aus der Partei aus, blieb ihr aber bis zuletzt verbunden. Grass...
Aus Protest gegen deren Asylpolitik trat er 1992 zwar aus der Partei aus, blieb ihr aber bis zuletzt verbunden. Grass... © dpa
... löste immer wieder heftige Kontroversen aus. 1997 beschmierten Unbekannte die Tür seines Hauses in Lübeck mit Hakenkreuzen.
... löste immer wieder heftige Kontroversen aus. 1997 beschmierten Unbekannte die Tür seines Hauses in Lübeck mit Hakenkreuzen. © dpa
Grass hatte nach dem Krieg eine Steinmetzlehre gemacht und in Düsseldorf und Berlin Kunst studiert; er war Bildhauer und Grafiker.
Grass hatte nach dem Krieg eine Steinmetzlehre gemacht und in Düsseldorf und Berlin Kunst studiert; er war Bildhauer und Grafiker. © dpa
Er zeichnete auch und schrieb Gedichte.
Er zeichnete auch und schrieb Gedichte. "Die Blechtrommel" bildet zusammen mit der Novelle "Katz und Maus" (1961) und dem Roman "Hundejahre" (1963) die sogenannte Danziger Trilogie. © dpa
Günter Grass bei einer Buchpräsentation im Oktober 1999 in Madrid.
Günter Grass bei einer Buchpräsentation im Oktober 1999 in Madrid. © dpa
Günter Grass bei seiner Rede zum Nobelpreis 1999.
Günter Grass bei seiner Rede zum Nobelpreis 1999. © dpa
Ausgelassen tanzte der Schriftsteller im Ballsaal der Stockholmer Stadthalle mit seiner Tochter Helene. Zuvor war der 72-Jährige mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden.
Ausgelassen tanzte der Schriftsteller im Ballsaal der Stockholmer Stadthalle mit seiner Tochter Helene. Zuvor war der 72-Jährige mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden. © dpa
Günter Grass vor der angekohlten Tür seines Hauses in Berlin-Friedenau am 16.09.1965.
Günter Grass vor der angekohlten Tür seines Hauses in Berlin-Friedenau am 16.09.1965. © dpa
Günter Grass und seine Frau Ute vor dem Fest zu seinem 80. Geburtstag in Lübeck  am 27.10.2007.
Günter Grass und seine Frau Ute vor dem Fest zu seinem 80. Geburtstag in Lübeck am 27.10.2007. © dpa
Grass im November 2014 bei der Eröffnung der Ausstellung «Hundejahre».
Grass im November 2014 bei der Eröffnung der Ausstellung «Hundejahre». © dpa
Günter Grass am 18.10.1997 auf der Frankfurter Buchmesse.
Günter Grass am 18.10.1997 auf der Frankfurter Buchmesse. © dpa
Günter Grass und SPD-Spitzenkandidat Björn Engholm bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein 1987.
Günter Grass und SPD-Spitzenkandidat Björn Engholm bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein 1987. © dpa
Günter Grass im Gespräch mit Bundeskanzler Helmut Schmidt und Altkanzler Willy Brandt auf dem Bundesparteitag der SPD in Berlin am 01.12.1979.
Günter Grass im Gespräch mit Bundeskanzler Helmut Schmidt und Altkanzler Willy Brandt auf dem Bundesparteitag der SPD in Berlin am 01.12.1979. © dpa
Heinrich Böll, Günter Grass und der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) sitzen am 21. November 1970 während des 1. Kongresses des Verbandes Deutscher Schriftsteller in der Stuttgarter Liederhalle.
Heinrich Böll, Günter Grass und der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) sitzen am 21. November 1970 während des 1. Kongresses des Verbandes Deutscher Schriftsteller in der Stuttgarter Liederhalle. © dpa
Günter Grass, aufgenommen am 13.11.1964.
Günter Grass, aufgenommen am 13.11.1964. © dpa
Heinrich Böll (re.) und Günter Grass im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt/Main 1971.
Heinrich Böll (re.) und Günter Grass im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt/Main 1971. © dpa
1/24

Sein „Butt“-Roman, mit dem der Vater von sechs Kindern 1977 aus dem politischen Tagesgeschäft in die Literatur zurückkam, analysierte die komplexe Lage zwischen Mann und Frau in Zeiten der Emanzipation und traf den Zeitgeist, ebenso wie „Das Treffen in Telgte“, bei dem es um Macht und Ohnmacht der Literatur vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis ins 20. Jahrhundert ging. Und noch einmal schwang sich Grass 2002 zum Erzähler alter Stärke auf, als er in der Novelle „Im Krebsgang“ den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs schilderte, weniger als dramatisches denn als historisches Ereignis, das von seinen Wurzeln im Nationalsozialismus nicht loszulösen ist.

Ein authentischer Riss im Denkmal

Günter Grass ist zeitlebens ein Vollblut- und Rundum-Künstler geblieben – und wer sah, mit welchem Schwung der 72-jährige Grass 1999 übers Parkett fegte, nachdem er den Nobelpreis entgegengenommen hatte, der sah, dass die Lebenslust, die schiere Vitalität dieses Vaters von sechs Kindern ein Teil seiner Kunst war, genau wie das Kochen. Wenn er nicht auf seine alte Olivetti-Schreibmaschine einhämmerte (für die er kistenweise Schreibbänder gehortet hatte), zeichnete oder gravierte der Grafiker Grass – wenn nicht gerade der Bildhauer seiner Düsseldorfer Jahre, der auch bei Otto Pankok in die Lehre gegangen war, sich wieder einmal durchsetzte.

Seine wahre Größe aber könnte jenseits aller Kunst und Politik darin liegen, dass er sich vor fast einem Jahrzehnt selbst vom Sockel heruntergeholt und nicht gewartet hat, bis einer seiner Biografen erst nach seinem Ableben auf die ganze Wahrheit stoßen würde. Dabei wird es für ihn im Laufe der Jahre und Jahrzehnte immer schwieriger geworden sein, die ganze Wahrheit auszusprechen, zumal die Symbolkraft der SS-Buchstaben alles überstrahlt hätte, was Grass an jugendlicher Verblendung durch den Nationalsozialismus in aller Offenheit bis dahin eingeräumt hatte. Gerade der überzeugende, ja authentische Riss, den Grass am Ende selbst in das Denkmal getrieben hat, das er war, könnte bedeuten, dass er zu einer Figur für die Ewigkeit geworden ist.

Reaktionen auf den Tod von Günter Grass

Mit ihm verlieren wir einen der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsgeschichte und einen engagierten Autor und Kämpfer für Demokratie und Frieden.

Sigmar Gabriel, SPD-Chef und Vizekanzler

Wir haben uns nicht mit demselben Thema beschäftigt, aber wir waren Freunde und haben uns gegenseitig geschätzt.

Der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz

Günter Grass ist gestorben. Das ist eine traurige Nachricht. Sein lit.Werk ist unsterblich. Die Blechtrommel war mein erstes wichtiges Buch.

Thomas Oppermann, Fraktionsvorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion

Traurig, dass Günter Grass gestorben ist. Werde ihn als streitbaren und für Deutschland wertvollen Autoren in Erinnerung behalten.

CDU-Vizechefin Julia Klöckner

Literaturnobelpreisträger, großer Autor, kritischer Geist. Ein Zeitgenosse mit dem Anspruch, verquer zum Zeitgeist zu liegen. #Grass

Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag

Mit Günter Grass hat uns ein großer Schriftsteller verlassen. Unsere Gedanken sind bei seinen Freunden & Angehörigen.

Tweet von Bündnis 90/Die Grünen

Günter #Grass war ein streitbarer Intellektueller - sein literarisches Werk bleibt überragend.

FDP-Chef Christian Lindner

Mit Günter Grass ist einer der größten und zugleich streitbarsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsgeschichte von uns gegangen. Mit seinem breiten kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Engagement hat er die bundesrepublikanische Geschichte über viele Jahre mitgeprägt. Der freiheitliche Geist der Bundesrepublik wurde auch durch Intellektuelle wie Günter Grass mit Leben gefüllt.(...)

Wolfgang Kubicki, Vorsitzender der FDP-Fraktion im Landtag von Schleswig-Holstein

Günter #Grass - ein großer und streitbarer Literat geht. Gerne erinnere ich mich an Gespräche mit ihm. #Traurig

Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD)

Der Schriftsteller als Zeitgenosse, wie ich ihn meine, wird immer verquer zum Zeitgeist liegen. Wir trauern um Günter #Grass.

Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD)

Mit Günter Grass verliert die Welt der Literatur einen wortmächtigen Autor und unsere Republik einen ihrer streitbarsten Mitbürger. Wenn er die Demokratie in Gefahr sah, ging er keiner notwendigen Auseinandersetzung aus dem Wege.

Klaus Staeck, Präsident der Berliner Akademie der Künste

Mit dem Tod von Siegfried Lenz und Günter Grass innerhalb kurzer Zeit geht eine ganze Epoche endgültig zu Ende - literarisch und auch politisch.

Joachim Lux, Intendant des Hamburger Thalia Theaters

Wir verlieren mit Günther Grass einen bedeutenden und streitbaren Literaten, ein trauriger Tag!

Thorsten Schäfer-Gümbel, Landesvorsitzender der hessischen SPD

Gott kann sich jetzt einiges anhören. #Grass

Der Autor und Komiker Micky Beisenherz bei Twitter

1/14