Essen. Vor zwei Wochen führte die CDU im NRW-Check klar vor der SPD. Doch inzwischen, sechs Wochen vor der Landtagswahl, ist die Lage eine ganz andere.
Mitleid kann auch eine Form der Verachtung sein und aus Überheblichkeit geschehen. Insofern habe ich mit der NRW-CDU und ihrem Hendrik Wüst vorsichtshalber kein Mitleid. Es gibt auch gar keinen wirklichen Grund dazu. Ob der Ministerpräsident nach der Landtagswahl am 15. Mai Ministerpräsident bleibt, ist völlig offen. Er hat weiter alle Chancen dazu. Aber wir leben in politisch bewegten Zeiten; ein Vorsprung heute kann sich schon wenige Wochen später in sein Gegenteil verkehren. Und die CDU, man kann es nicht anders sagen, hat gerade keinen besonders guten Lauf.
Beim NRW-Check vor zwei Wochen, einer repräsentativen Umfrage des Forsa-Instituts im Auftrag der WAZ und weiterer NRW-Zeitungen, hatte die CDU noch vermeintlich komfortable fünf Prozentpunkte vor der SPD gelegen. Ich würde meine Hand nichts ins Feuer dafür legen, dass die berühmte Sonntagsfrage jetzt wieder so ausfällt. Vermutlich werden wir Zeugen eines spannenden Kopf-an-Kopf-Rennens, auch wenn das Publikum noch abgelenkt ist durch die Grausamkeiten des Krieges in der Ukraine und seinen Folgen.
Die Volkspartei, sie lebt!
Landespolitik: Das ist innere Sicherheit, das ist Schule/Bildung, und es ist vor allem Corona. Selten war die Landespolitik so wichtig für unser Alltagsleben wie in den vergangenen zwei Jahren der Pandemie. Das sollten wir nicht vergessen, wenn wir in wenigen Wochen - hoffentlich zahlreich - unserer ersten Bürgerinnen- und Bürgerpflicht nachgehen und zu den Urnen schreiten. Das Ergebnis kann überraschend sein.
Bei der Landtagswahl am vergangenen Sonntag im Saarland ist der dortigen SPD eine solche Überraschung geglückt. Sie hat die absolute Mehrheit der Landtagssitze erreicht. Wie bitte? Das machen doch nur Volksparteien? Hatten wir, hatte auch ich nicht immer wieder geschrieben, die Volkspartei als solche sei mausetot? Manchmal ist es gut, wenn man sich irrt - nicht um der SPD willen, sondern um der Demokratie, um das Funktionieren unseres politischen Systems willen. Politische Stabilität braucht Volksparteien.
Das Sideboard, es lebt auch!
Klar, dass das Ergebnis der Saar-SPD der NRW-SPD Auftrieb gab und gibt. Auftrieb bekommt sie zudem durch den Kanzler-Bonus, seitdem Olaf Scholz medial wieder sichtbarer wird und das macht, was er offenbar am besten kann: Ruhe und Souveränität in einer prekären Lage ausstrahlen. Er ist jetzt wieder da, der „Scholzi“, den sie in der WDR-2-Ampel-WG-Parodie mal für ein Sideboard, mal für einen Kleiderständer oder eine Pinnwand halten – in jedem Falle für einen, nun ja, toten Gegenstand.
Auf der anderen Seite gibt die NRW-Landesregierung derzeit kein gutes Bild ab. Dass Wüst während seines Besuchs in Israel stundenlang ein positives PCR-Testergebnis nicht wahrgenommen hatte – geschenkt! Ganz anders sieht das bei den Verfehlungen seiner Umweltministerin aus. Ihr Krisenmanagement während der Flut-Katastrophe im Sommer und ihre zweifelhaften Aussagen dazu im U-Ausschuss wirken schwer. War sie nun vier oder neun Tage auf Mallorca? Hat sie den Ausschuss getäuscht, gar belogen?
Was ist mit Anne Spiegel?
Die Causa Heinen-Esser wird auch nicht dadurch besser, wenn man auf ihre damalige rheinland-pfälzische Amtskollegin verweist. Die Grünen-Politikerin Anne Spiegel, inzwischen Bundesfamilienministerin, hatte sich nachweislich erst kaum um die sich anbahnende Flut-Katastrophe im Ahrtal mit 134 Toten gekümmert, dann aber anschließend umso mehr um ihr Image und die Frage, mit welchem „Wording“ sie am besten aus der Sache herauskommt. Das ist ein wirklicher Skandal, und ich halte es für schlicht unglaublich, dass diese Frau noch immer im Amt ist und sich keiner mehr für sie und ihre Verfehlungen interessiert.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.
Aber zurück nach NRW. Wüsts anfänglicher Versuch, sich als heimlicher Oppositionsführer gegen Kanzler Scholz zu profilieren, ist aus unterschiedlichen Gründen gescheitert. Erstens hat Wüst nach den von ihm geleiteten Ministerpräsidenten-Konferenzen nicht genug Wums in seine Kritik gegen die Corona-Politik der Bundesregierung legen können. Wenn Scholz neben Wüst sein schlumpfiges Lachen lächelt, wirkt das wie Teflon, an dem alles abperlt. Zweitens ist die Union inzwischen gezwungen, sich aus staatspolitischer Verantwortung hinter dem Kriegs-Kanzler zu versammeln. Und drittens verhindert Wüsts Koalitionspartner, dass er einen schärferen Team-Vorsicht-Kurs in Sachen Corona fährt. Das ist sehr schlecht bis tödlich für Wüsts Wahlkampf.
Das Werk der Freidemokraten
Es ist schon erstaunlich. Wie so oft in der Geschichte der Bundesrepublik spielt die noch immer eher kleine FDP mal wieder eine alles entscheidende Rolle. In der Ampelkoalition nimmt sie SPD und Grüne in den Würgegriff und zwingt die Bundesregierung auf einen unverantwortlichen Corona-Lockerungskurs. Wenn in wenigen Tagen die Masken in den Supermärkten fallen, ist das das Werk der Freidemokraten. Genau das gleiche Schauspiel ist derweil in Düsseldorf zu beobachten. Gesundheitsminister Laumann sagt, NRW wolle die Corona-Regeln über den 2. April hinaus verlängern; prompt pfeift ihn Vize-Ministerpräsident Stamp von der FDP zurück und spricht von einer Privatmeinung Laumanns.
Hatte ich an dieser Stelle schon einmal so oder so ähnlich gefragt, ob Herr Stamp noch alle Schnelltests im Schrank hat?
Stamp und Co. dürfte es egal sein. Ihre Strategie ist ja erfolgreich. Man regiert in Berlin, und man hat gute Aussichten, wieder in Düsseldorf zu regieren, mit wem auch immer. Vor allem bei jungen Wählerinnen und Wählern, die in besonderer Weise unter den Corona-Einschränkungen gelitten haben, kommen die Freiheits-Beschwörungen der Liberalen gut an, wie man bei der Bundestagswahl beobachten konnte. Mag sein, dass das das alte Stamm-Klientel, Apotheker und andere Besserverdienende, nicht so sehr anspricht. Das neue Stamp-Klientel fährt offenbar voll darauf ab. Tschüss, Corona!
Und auf bald.