Essen. Das Ende der Volksparteien und die damit zu erwartende Dreier-Koalition destabilisieren unser politisches System. Die Folgen sind verheerend.

Wenn ich an diesem Sonntag in unserem Dorf mit Frau und Kindern zum Wahllokal spaziere, dann wird dieser ohnehin schon etwas feierliche urdemokratische Akt etwas noch Weihevolleres haben als sonst. Denn mit dieser Bundestagswahl geht eine Ära zu Ende, die Ära Angela Merkel. Mit Merkel ist eine ganze Generation aufgewachsen, die aktiv keinen anderen Bundeskanzler oder eine andere Bundeskanzlerin kennenlernen konnte. Während ich mit meinen fast 50 Jahren zur „Generation Kohl“ gehöre (kein Mitleid bitte!), kann man hier von einer „Generation Merkel“ sprechen.

Die „Kanzlerin der Krisen“ hat es geschafft

Über das, was Merkel für Deutschland und Europa geleistet hat, ist schon viel geschrieben worden. Während Kohl als „Kanzler der Einheit“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist, wird Merkel die „Kanzlerin der Krisen“ gewesen sein. Ich finde, es hätte schlimmer kommen können. Wir haben die Finanzkrise einigermaßen gut überstanden. In der Flüchtlingskrise hat Merkel mit ihrem in Teilen der Gesellschaft verhassten „Wir schaffen das!“ letztlich recht behalten und – ganz nebenbei – dem „C“ im Namen der CDU zu neuer Strahlkraft verholfen. Und in der noch nicht überstandenen Corona-Krise schließlich hielt sie, bei erheblichem Gegenwind aus den Bundesländern und nicht zuletzt aus NRW, Maß und Mitte und sorgte so dafür, dass man durchgehend lieber in Deutschland war als irgendwo sonst auf der Welt.

Anders als etwa in den USA blieben im Angesicht der Pandemie bei uns die (meisten) Tassen im Schrank.

Visionäre Weitsicht war Merkels Sache nicht

Dieser international halb wertschätzend, halb verächtlich als „Merkelismus“ bezeichnete unaufgeregt-pragmatische Regierungsstil hat freilich auch seine Schattenseiten. Dass man im Nebel einer Krise, für deren Lösung es keine Blaupausen gibt, lieber nicht Vollgas gibt, sondern auf Sicht fährt, leuchtet jedem vernünftigen Menschen ein. Ebenso einleuchtend ist aber, dass die großen und dramatisch größer werdenden Herausforderungen dieser Zeit – allen voran der Klimawandel und die damit verbundene Notwendigkeit eines geradezu revolutionären Umbaus unserer gesamten Wirtschaft – visionäre Weitsicht erfordern. Visionäre Weitsicht jedoch hat mit Merkel so viel zu tun wie die Fridays-for-Future-Bewegung mit dem Betreiber einer Kreuzfahrtlinie. Auch das gehört zum „Merkelismus“, und auch dieser Teil der Ära sollte schleunigst enden.

Wird er aber nicht.

Nein, ich rede hier nicht in erster Linie von Olaf Scholz, der sich – verrückt genug – als legitimer Nachfolger Merkels betrachtet, eine Sichtweise, die er offenbar mit einem beträchtlichen Teil der Wählerinnen und Wähler teilt. Tatsächlich ist ja völlig offen, ob am Sonntagabend die SPD die Nase vorn hat oder nicht doch die Union. Und selbst wenn die SPD die meisten Stimmen bekommen sollte, so wäre daraus noch lange kein eindeutiger Regierungsauftrag für Scholz abzuleiten. Denn ob man diese Position mag oder nicht, an einer Stelle hat FDP-Chef Christian Lindner recht: Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wird die stärkste Partei von mehr als 70 Prozent der Wählerinnen und Wähler nicht (!) gewählt worden sein. Erst Koalitionsverhandlungen und die Einigung auf ein Regierungsprogramm werden eine parlamentarische Mehrheit hervorbringen, aus der dann tatsächlich ein Regierungsauftrag abgeleitet werden kann.

Zu erwarten ist eine Koalition des kleinsten gemeinsamen Nenners

Daraus folgen zwei Dinge. Erstens: Wer sich am Wochenende mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel schlafen legt, wird am kommenden Montag mit der geschäftsführenden Bundeskanzlerin Angela Merkel wieder aufwachen, am darauffolgenden Montag auch, am überübernächsten Montag wieder und so weiter und so fort. Es kann Monate dauern, bis eine neue Koalition steht, und bis dahin muss und wird Merkel weitermachen. Zweitens: Da eine solche Koalition mutmaßlich aus mindestens drei Parteien bestehen wird und in jeder Konstellation eine dieser drei Parteien politisch nicht gut zu den anderen beiden passt, wird ein solcher Dreierpakt eine Koalition des kleinsten gemeinsamen Nenners darstellen. Weder Rot-Grün-Rot noch eine Ampel noch Jamaika werden in der Lage sein, eine große Erzählung für die nach Reformen lechzende Republik aufzuschreiben. Das Fahren auf Sicht wird zur Dauereinrichtung.

Die Ära Merkel ist tot, es lebe der Merkelismus! Mit Scholz, Laschet oder wem auch immer als Kanzler.

Das Ende der Volksparteien destabilisiert unser politisches System

Blicken wir also am Vorabend dieser bedeutenden Bundestagswahl mit etwas Abstand auf den Zustand unseres politischen Systems und auf seine Funktionalität, so gibt es einen beruhigenden und einen erschreckenden Befund. Die gute Nachricht ist: Scholz, Laschet, Baerbock, Lindner und sogar diese Leute von der Linkspartei, deren Namen mir gerade nicht einfallen wollen, sind allesamt Anti-Trumps wie Merkel. Von ihnen ist nicht zu erwarten, dass sie – anders als die AfD, die glücklicherweise keine Chance auf Regierungsbeteiligung hat – mit Lügen und Hetze die Gesellschaft bewusst an den Abgrund führen und darüber hinaus. Die schlechte Nachricht ist: Das Ende der Volksparteien, die jeweils in der Lage sind, sicher mehr als 30 Prozent der Wählerstimmen auf sich zu vereinen, wird zu einer Klein-Klein-Regierung führen, die kaum in der Lage ist, uns mutig, kraftvoll und entschlossen vom Abgrund wegzuführen.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.

Nachdem erst die SPD die Fähigkeit verloren hat, Menschen unterschiedlichster Herkunft und verschiedenster Interessen dauerhaft zu vereinen, sind nun auch die Unionsparteien in diesem Wahlkampf unter die Räder geraten. Und den Grünen ist es, anders als vor Monaten prognostiziert, nicht gelungen, sich als neue Volkspartei zu etablieren. Weniger Bindekräfte bedeutet mehr Volatilität und damit weniger Stabilität, nicht nur bei dieser Bundestagswahl, sondern auch bei der NRW-Landtagswahl im Mai kommenden Jahres, wenn eine neue Bundesregierung so gerade ihr Amt angetreten haben dürfte.

Die angebliche Kanzlerwahl ist gar keine

Und noch etwas wirkt destabilisierend für unsere Demokratie. Selten spielten die Kanzlerkandidaten eine derart wichtige Rolle für die Wahlentscheidungen der Bürgerinnen und Bürger. Obwohl am Sonntag nur Parteien zur Wahl stehen, werden die meisten Menschen in der Wahlkabine ein Bild von ihrem favorisierten Spitzenkandidierenden vor Augen haben und die dazu passende Partei wählen. Noch am Abend wird aber all diesen Wählerinnen und Wählern schlagartig klar werden, dass eine endgültige Entscheidung über die Merkel-Nachfolge viel später und ganz woanders getroffen wird.

Trotzdem: Die erste Entscheidung treffen wir. Wir legen die Grundlage für alles, was folgt, Sonntag, in unserem Wahllokal, in unserer Wahlkabine. Wie die (bisherigen und/oder potenziellen) Volksparteien tatsächlich abschneiden, ist nichts, was uns einfach passiert. Wir haben es in der Hand. Nicht Forsa oder Allensbach oder Infratest bestimmen den Ausgang der Bundestagswahl, sondern Du und ich.

Auf bald, an der Urne!