Essen. Auch im Streit um Corona-Impfungen hat jeder das Recht auf eine eigene Meinung, nicht auf eine eigene Wahrheit. „False balance“ ist eine Gefahr.
Thomas ist ein guter Freund von mir, den ich nunmehr seit fast 30 Jahren kenne – weshalb ich liebevoll behaupten möchte, dass er sogar ein guter alter Freund von mir ist. Seine größten Stärken sind seine Intelligenz und seine Eloquenz. Wer sich mit ihm über politische Themen streiten will, muss gut informiert sein und rhetorische Winkelzüge schnell parieren. Seit Wochen und Monaten streiten wir uns darüber, dass er sich nicht impfen lassen will. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um seine Gesundheit. Er wird sich spätestens im Winter anstecken, so viel ist klar, und ich finde, er sollte dieses Risiko nicht eingehen.
Komme ich mit Drosten, entgegnet er mit Streeck
Doch auf jedes Argument antwortet Thomas mit einem Gegenargument. Komme ich mit Drosten, entgegnet er mit Streeck. Und wenn ich den Namen Lauterbach nur erwähne, wird der Disput explosiv. Angstmacher seien das, wettert er dann, Pharmalobbyisten, Freiheitsberauber. Neulich ereiferte er sich sogar über die „Systemhuren in den Medien“ – und zeigte mit dem nackten Finger auf mich. Auf meine erkennbare Empörung reagierte er zwar sofort mit einem versöhnlichen Augenzwinkern. Aber macht es eine Beleidigung nicht noch schlimmer, wenn sie der Urheber anschließend nur zum Schein ironisiert?!
Also sagte ich: „Thomas, Du hast doch nicht mehr alle Tassen im Schrank!“ (Zwinker, zwinker!)
Unsere Freundschaft ist alt und stabil genug, dass sich anschließend der Rauch wieder legte. Für mich jedoch bleibt eine grundlegende Frage im Raum stehen: Wie kann es sein, dass selbst so schlaue Menschen wie Thomas das Offensichtliche nicht sehen? Schließlich geht es hier nicht um einen bloßen Meinungsstreit, der anhand unterschiedlicher moralischer und/oder ästhetischer Maßstäbe ausgefochten wird. Es geht um Fakten; es geht um wissenschaftliche Evidenz.
Wer entscheidet, was wahr ist?
Jeder hat ein Recht auf eine eigene Meinung. Aber wenn jeder ein Recht auf eine eigene Wahrheit für sich in Anspruch nimmt, dann stellt das nicht nur Freundschaften auf eine harte Probe. Dann gerät die gesamte Gesellschaft auf die schiefe Bahn – so wie wir es in den USA ja schon länger beobachten können, wo News und Fakenews scheinbar gleichberechtigt koexistieren.
Damit allerdings drängt sich die nächste Frage auf: Wer oder was entscheidet, was wahr ist? Die Antwort lautet: Es sind nicht Regierungs- oder Religionsvertreter; es ist die Wissenschaft. Denn in der Wissenschaft einer aufgeklärten Gesellschaft gewinnt nicht der, der am besten verführt, der besonders nett oder laut oder gottesfürchtig ist. Es gewinnt das am besten belegte Argument – belegt anhand von Daten und Fakten, deren Gewinnung methodisch einwandfrei sein und offenliegen muss, so dass sie von der Forschergemeinschaft jederzeit überprüft und wiederholt werden kann.
Stefan Rahmstorf ist Klima- und Meeresforscher und ärgert sich immer wieder darüber, dass der notwendige Klimaschutz von interessierter Seite angezweifelt und sogar als „Staatsreligion“ diffamiert wird. Wer selbst gerne Auto fährt, fliegt oder sogar Kreuzfahrten unternimmt und sich hier nicht einschränken (lassen) möchte, mag das Infragestellen des Klimawandels sympathisch finden. Auf dem Holzweg befindet er sich trotzdem. Denn die renommierte Wissenschaft ist sich einig: Der Klimawandel ist eine reale Bedrohung.
Streeck ist in Sachen Corona weniger renommiert
Rahmstorf hat in einem Artikel für den „Spiegel“ jüngst anschaulich erläutert, was „renommiert“ bedeutet. Ein Forschender ist demnach umso renommierter, je häufiger er in Fachzeitschriften publiziert, die nach dem Peer-Review-Prinzip funktionieren (unabhängige Gutachter aus dem gleichen Fachgebiet überprüfen die Qualität der Forschungsarbeit vor Veröffentlichung), und je häufiger er mit seinen Studien in anderen Fachpublikationen zitiert wird. Die Zitierrate lässt sich dabei leicht anhand öffentlich zugänglicher Datenbanken überprüfen: Die Arbeiten des Virologen Christian Drosten wurden in der Fachliteratur im vergangenen Jahr 15.000 Mal zitiert, die seines ebenso prominenten Kollegen Hendrik Streeck 700 Mal, und zwar überwiegend im Hinblick auf dessen HIV-Forschung. Sind die Positionen eines Hendrik Streeck also gleich viel wert wie die eines Christian Drosten, oder gibt es nicht doch einen entscheidenden Unterschied?
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.
Der ZDF-Satiriker Jan Böhmermann hat sich dazu vor einigen Tagen auf einer Bühne in Hamburg einen heftigen Schlagabtausch mit ZDF-Moderator Markus Lanz geliefert. Es sei nicht in Ordnung, warf Böhmermann Lanz vor, Leute wie Streeck oder den Virologen Alexander Kekulé in Talkshows einzuladen, die dort das Coronavirus verharmlosen würden, obwohl sie nicht ausreichend renommiert seien. Leider konnte es sich Böhmermann nicht verkneifen, die Ansichten von Streeck und Kekulé als „durchtränkt von Menschenfeindlichkeit“ zu bezeichnen, was eine üble Polemik ohne jede Substanz darstellte.
Einen Punkt aber traf Böhmermann zielsicher: Denn es ist durchaus typisch für die Diskussionen rund um die Coronakrise, dass Politiker und Journalistinnen immer wieder in die „False-Balance-Falle“ tappen, was durchaus fatale Folgen haben kann. „False balance“ bedeutet, dass Aussagen renommierter Forscherinnen aus Gründen vermeintlicher Objektivität denen weniger renommierter Forscher oder gar bestimmter Interessenvertreter als gleichberechtigt gegenübergestellt werden.
Sollte man daher einen Hendrik Streeck nicht in eine Talkshow einladen? Doch, sollte man, natürlich. Zugleich muss aber immer klar sein, dass eine wissenschaftliche Minderheitenposition eine Minderheitenposition ist – die allerdings auch ein Mindestmaß an Seriosität erfüllen muss. Denn nur dann besteht die Chance, dass aus einer Minderheitenposition langfristig eine gängige Lehrmeinung werden könnte, sobald mehr Daten und Fakten vorliegen.
Markus Lanz muss selbst entscheiden
Die Frage von Lanz an Böhmermann also, ob seine Redaktion denn nun entscheiden solle, welcher Wissenschaftler wie seriös sei, ist insofern mit einem klaren „Ja, sicher, wer sonst?!“ zu beantworten. Dafür gibt es objektive Kriterien. Der Corona-Skeptiker und selbst ernannte Experte Wolfgang Wodarg etwa, der null qualifizierte Forschungsarbeiten vorzuweisen hat, wäre doch offensichtlich kein geeigneter Gast für Markus Lanz. Das ZDF würde ja auch niemanden einladen, der in astronomischen Fragen die These vertritt, die Erde sei eine Scheibe – und am Ende einigt man sich mit dem Die-Erde-ist-eine-Kugel-Vertreter auf den neutralisierenden Kompromiss, die Erde ähnele der elliptischen Form eines Rugbyballs. „Neutral“ ist eben nicht gleich „objektiv“.
Lieber Thomas, vielleicht nimmst Du Dir das zu Herzen. Wir sollten nicht darüber streiten, ob die Erde eine Kugel ist. Lass Dich impfen! Auf bald.