Essen. Mit seiner diplomatischen Entgleisung hat Selenskyj nicht nur Deutschland geschadet, sondern vor allem der Ukraine im Krieg gegen Putin.
Die Freiheit Deutschlands wird nicht am Hindukusch verteidigt, sondern in Mariupol, Charkiw und Kiew. Abgesehen von moralisch-humanitären Erwägungen haben wir ein vitales Eigeninteresse daran, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt, dass nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern – eines Tages wieder – die Stärke des Rechts. Deswegen engagieren wir uns auf eine bis vor wenigen Monaten noch undenkbare Weise: Abgesehen von erheblichen finanziellen Mitteln, die wir jetzt und auch in Zukunft für die Ukraine aufwenden, liefern wir Waffen in einem bedeutenden Umfang. Wir haben Sanktionen verhängt, die auch die deutsche Wirtschaft schwer belasten. Und wir wandeln bewusst am Abgrund. Ein Ende der Gaslieferungen könnte große Teile unserer Industrie zerstören. Zudem besteht die Gefahr, dass wir über die Nato auch direkt in den Krieg hineingezogen werden. Dann droht nicht nur die Vernichtung industrieller Anlagen ...
Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland trägt das alles mit. Zehntausende Flüchtlinge bei uns aufzunehmen, liebevoll zu versorgen und bestmöglich zu integrieren, ist da fast schon eine nebensächliche Selbstverständlichkeit. Nicht einmal die traditionell ebenso fremdenfeindliche wie Putin-freundliche Rechte in Deutschland muckt deswegen auf. Gut so.
Ich konnte es nicht glauben
Umso mehr schmerzt dann das, was ich als langjähriger politischer Beobachter weiter für beispiellos halte unter befreundeten, oder sagen wir doch besser: verbündeten, Partnern. Den Bundespräsidenten, das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland, quasi zu einer unerwünschten Person zu erklären, die man in Kiew nicht empfangen möchte, ist ein Affront gegen Deutschland insgesamt, eine diplomatische Entgleisung, eine Flegelhaftigkeit, die geeignet ist, die Stimmung in Deutschland kippen zu lassen. Ich konnte es erst gar nicht glauben.
Was das bedeuten und nach sich ziehen kann, wenn die Stimmung zu kippen droht, lässt sich gerade in Frankreich betrachten. Hier sind es die wirtschaftlichen Auswirkungen, die politisch durchschlagen. Aus dem beträchtlichen Anstieg der Lebenshaltungskosten schlägt vor allem die rechtsextremistische Marine Le Pen politisches Kapital. Es wäre die Katastrophe in der Katastrophe, wenn diese deutschland- und europafeindliche Frau das Rennen um die Präsidentschaft in Frankreich gewinnen würde. Europa wäre in jeder Hinsicht am Ende. Hoffen wir, dass es nicht so kommt.
Steinmeier ist ein rotes Tuch für die Ukraine
Was aber ist in Wolodimir Selenskyj gefahren? Wieso ist Frank-Walter Steinmeier für den unkrainischen Präsidenten ein derart rotes Tuch, dass er die Einheitsfront gegen Putin gefährdet – der die Brüskierung Deutschlands wiederum zum Anlass genommen haben dürfte, die Krimsekt-Korken knallen zu lassen? Wären Selenskyjs Volk und er selbst nicht derart existenziell bedroht durch Krieg und Kriegsverbrechen, was diesen Mann in einer permanenten, für Außenstehende kaum nachvollziehbaren Ausnahmesituation gefangen hält, müsste man ja fragen:
Hat er noch alle Tassen im Schrank?
Machen wir es uns nicht so einfach. Die Ukrainer sind enttäuscht von Deutschland. Aus ihrer Perspektive helfen wir nicht genug. Aus ihrer Perspektive helfen wir auch nicht schnell genug. Was manche als eine Politik der ruhigen Hand schätzen, wirkt auf andere wie eine Politik der eingeschlafenen Füße. Während wir debattieren, ob wir schwere Waffen liefern wollen und wenn ja, welche, sterben in den ukrainischen Städten die Menschen. Die Regierung Selenskyj hat keine Zeit zu verlieren. Wer das Grauen von Butscha vor Augen hat, versteht das sofort.
In der Tradition Willy Brandts
Ein Bundespräsident bringt keine Waffen mit. Er hat nur warme Worte im Gepäck. Das allein ist es aber nicht. Steinmeier repräsentiert wie kaum ein anderer die deutsche Russlandpolitik der vergangenen Jahre. „Annäherung durch Verflechtung“ war sein Slogan; das knüpfte direkt an die 40 Jahre alte Politik Willy Brandts unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ an, nur dass jetzt die russischen Energielieferungen im Mittelpunkt standen
.Steinmeier war damals erst Kanzleramts-, dann Außenminister. Die Bundeskanzler, denen er diente, hießen Gerhard Schröder (für diesen Schröder, der sich noch immer von Putin bezahlen lässt, kann man sich als Deutscher nur in Grund und Boden schämen) und dann Angela Merkel. Die Kanzlerin stand weiter in der Tradition dieser Russlandpolitik; selbst nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim unterstützte sie Nord Stream 2. Aus der Sicht der Osteuropäer, vor allem der Ukrainer, war das immer ein schwerer, ein unverzeihlicher Fehler. Mit dem Teufel macht man keine Geschäfte.
Mit dem Teufel Geschäfte gemacht
Steinmeier aber hat nach ukrainischer Lesart mit dem Teufel Geschäfte gemacht. Selenskyj hat inzwischen zwar bestritten, überhaupt eine offizielle Anfrage für einen Steinmeier-Besuch bekommen zu haben (die Idee dazu war von Polens Präsident Duda ausgegangen), legte aber gleich im Stil seines unseligen Botschafters in Deutschland, Andrij Melnyk, nach: „Wir können es uns leisten, uns mit jenen zu umgeben, die uns wirklich unterstützen, uns mit echten Freunden zu umgeben.“ Steinmeier – kein echter Freund. Deutschland – kein echter Freund. Wem die Bomben um die Ohren fliegen, der hat keinen Sinn für Diplomatie. Ein schwerer Fehler war und ist es trotzdem. Der Feind sitzt im Kreml, nicht in Berlin.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.
Was wäre das für ein starkes Bild gewesen: fünf Präsidenten, aus Estland, Lettland, Litauen, Polen und Deutschland, in Kiew. Das hätte den Druck auf Berlin, mehr Waffen zu liefern, erhöht. Jetzt passiert das Gegenteil. Die deutsche Öffentlichkeit, bisher eher Treiber als Bremser in Sachen Solidarität mit der Ukraine, ist irritiert und gespalten. Und in der Bundesregierung sind sie schwer verärgert, reagieren aber richtigerweise professionell zurückhaltend. Klar ist aber: Sollte Bundeskanzler Scholz darüber nachgedacht haben, Kiew einen Besuch abzustatten, so wird das nun auf unbestimmte Zeit nicht stattfinden können. Der Kanzler kann und darf dem Bundespräsidenten nicht in den Rücken fallen. Schlau geht anders, Herr Selenskyj!
Und Angela Merkel schweigt
Schlau geht anders: Das gilt auch für den deutschen Oppositionsführer, CDU-Chef Friedrich Merz. Was bedeutet es eigentlich, wenn er über die SPD-Russland-Politik schimpft und dabei vergisst, dass seine Partei 16 Jahre lang die Bundesregierung geführt hat? 16 Jahre lang war Merkel Kanzlerin. 16 Jahre lang. Steinmeier immerhin hat Selbstkritik geübt; er hat Fehler eingestanden. Von Merkel war bis heute noch nichts zu hören. Gar nichts.
Ohnehin sollten wir es der einen oder anderen reaktionären Kraft in Deutschland nicht erlauben, die gescheiterte Russland-Politik als logische Folge einer letztlich gescheiterten Entspannungspolitik aufzumalen. Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel und ihre jeweiligen Außenminister haben ihren Anteil an jahrzehntelangem Frieden in Europa. Ohne die Entspannungspolitik Brandts wäre Kohl nie Kanzler der Einheit geworden. Dafür sollten wir dankbar sein. Und dass Putin, dem viel zuzutrauen war, am Ende tatsächlich die gesamte Ukraine mit einem Angriffskrieg überzieht, wollte bis kurz davor niemand so recht glauben – auch nicht die, die hinterher mal wieder alles besser wissen.
Auf bald. Frohe, sonnige Ostern – trotz allem!