Essen. Wir taumeln am Abgrund. Deutschland steckt im Dilemma, ringt nach Antworten. Zählen Sie mal die Fragen in dieser Kolumne! Sie werden staunen.

Wohin mit den Gefühlen? Überall liegen Leichen auf den Straßen. Ein Mann wurde vom Fahrrad geschossen. In einem Hinterhof wurde eine ermordete Familie notdürftig begraben. Eine ältere Frau trauert um ihren getöteten Sohn; sie schreit und weint und klagt an. Ich sitze vor dem Fernseher und erspüre den Schmerz dieser Menschen. Szenenwechsel. Sitzung des UN-Sicherheitsrates. Man gibt sich zur Begrüßung höflich die Hand. Der russische Botschafter spricht kühl von Inszenierungen und Provokationen. Ich horche in mich hinein: Überwiegt die Traurigkeit? Oder ist es jetzt mehr Wut? Wut über die Brutalität, die Menschenverachtung und über die abgrundtiefe Verlogenheit dieses Schreibtischtäters.

Prorussische Demo in Berlin? Verschwindet!

Noch ein Szenenwechsel. Durch Berlin fährt ein prorussischer Autokorso. Demonstranten laufen mit Putin-T-Shirts durch die Straßen. Sie verehren ihn, einen der schlimmsten Kriegsverbrecher, einen, der uns mit seinen Atombomben in Angst versetzen will. Liebe Putin-Freunde, Hand aufs Herz:

Habt Ihr noch alle Tassen im Schrank? Schämt Ihr Euch gar nicht?

Ich finde: Wer in Deutschland für Putin demonstriert und so die Opfer in Butscha und anderswo verhöhnt, hat in unserem Land nichts verloren. Viel weiter kann man sich nicht außerhalb unserer Werteordnung verorten. Und das hat nichts, aber auch gar nichts mit Russen-Phobie zu tun. Im Gegenteil. Wenn der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, ernsthaft in einem Interview sagt, alle Russen seien gerade Feinde, dann ist dem entschieden entgegenzutreten. Dieser Nationalismus atmet den Geist Putins. Melnyk disqualifiziert sich als Diplomat wieder und wieder. Er ist dabei völlig ungeniert, weil er weiß, dass sich kein deutscher Politiker traut, ausgerechnet jetzt den Botschafter dieses geschundenen Volkes in die Schranken zu weisen.

Melnyk nutzt unsere Schamgefühle aus

Denn da ist noch ein Gefühl: ein Gefühl der Scham und der Ohnmacht. Tun wir wirklich genug? Lassen wir die Ukrainer im Stich, weil wir nicht an unsere Grenzen der Belastbarkeit gehen? Weil wir weinerlich danebenstehen statt einzugreifen? Tatsächlich befinden wir uns in einem unauflösbaren Dilemma, und zwar in militärischer und in wirtschaftlicher Hinsicht.

Müsste die Nato nicht doch aktiver eingreifen in diesen Konflikt – auch auf die Gefahr hin, offiziell in einen Krieg mit Russland zu geraten? Wir ängstigen uns vor den Atombomben Putins, dabei besitzt der Westen diese Waffen ebenso. Verändert sich das Gleichgewicht des Schreckens, wenn die Nato mit konventionellen Waffen direkt auf dem Gebiet der Ukraine interveniert? Eigentlich nicht. Putin könnte uns nicht vernichten, ohne sich und sein Volk selbst auszulöschen.

Das unkalkulierbare Risiko

Aber es gibt ein unkalkulierbares Risiko. Was ist, wenn Putin in einem ultimativen Racheakt sein Ende und das Ende Russlands doch in Kauf nimmt? Es steht zu viel auf dem Spiel. Putin weiß das. Wir wissen das. Es ist ätzend, es ist unerträglich. Können wir dann nicht wenigstens die Wirtschaftssanktionen maximieren? Mit jedem Bild, jedem Video, jedem Reporterbericht aus Butscha steigt der Druck auf Deutschland, von sich aus den Gashahn – und damit den Geldhahn für Putin und sein Oligarchensystem – zuzudrehen.

Heute Morgen hat ein Kollege in der Redaktionskonferenz darauf verwiesen, dass wir vor rund 25 Jahren fast viereinhalb Millionen Arbeitslose hatten. Deutschland stehe heute viel besser, ökonomisch viel stabiler dar, trotz durchgemachter Finanz- und Corona-Krise. Wäre ein begrenzter Wirtschaftseinbruch nicht verkraftbar, der aus einem Gasembargo folgen würde?, fragte er. Was wären diese Einschränkungen, wäre dieser Verzicht gegen das Leid und Elend der Ukrainer? Was genau würde denn passieren, wenn plötzlich kein Gas mehr aus Russland flösse? Mein Blick wanderte zu unserem Wirtschafts-Ressortleiter, der die kompliziertesten ökonomischen Zusammenhänge analysieren und erklären kann. Er zuckte mit den Achseln: „Man weiß es eben nicht.“

Es droht eine industrielle Kernschmelze

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.

Das ist das nächste unkalkulierbare Risiko. Drei Prozentpunkte weniger Wirtschaftsleistung wären schon alles andere als einfach zu verkraften. Aber hier geht es um mehr. Es geht um das womöglich monatelange Abschalten ganzer Industrieparks, die auch nicht einfach wieder von heute auf morgen hochgefahren werden können. Es geht in der Folge um das Zusammenbrechen diverser Lieferketten, was dazu führen würde, dass im Supermarkt nicht nur die Speiseöl- und Klopapier-Regale leer blieben. Galoppierende Inflation, Kurzarbeit, Massenarbeitslosigkeit und geplünderte Staats- und Sozialkassen gehören mit auf die Liste der Grausamkeiten. Wir sprechen hier nicht von einem begrenzten Verzicht, einem einmaligen Einschnitt, von ein wenig „Frieren für den Frieden“.

Thyssenkrupp-Chefin Martina Merz, die nicht gerade zu öffentlichen Dramatisierungen neigt, sprach in einem Interview von einer regelrechten „Implosion“ der deutschen Wirtschaft. Es geht um die drohende Zerstörung der Stahl-, der Chemie-, der Glas- und Keramik-Industrie. Die unkontrollierbaren Kettenreaktionen könnten zur Kernschmelze der deutschen Volkswirtschaft führen und uns um Jahre und Jahrzehnte zurückwerfen. Was könnte sich Putin mehr wünschen als eine derart nachhaltige Schwächung des größten Landes im Herzen Europas? Ehrlich gesagt: Wir alle blicken gerade in den Abgrund.

Danke, Merkel!

Schon höre ich wieder das bekloppte „Danke, Merkel!“ Aber ernsthaft: Haben uns nicht Schröder, Steinmeier und Merkel in diese fatale Abhängigkeit gebracht? Nur deswegen stecken wir doch jetzt in einem solchen Dilemma. Zur Wahrheit gehört aber auch: Es gab wenig bis keine kritischen Stimmen dagegen. Vielmehr gehörte es zum Selbstverständnis deutscher Außenpolitik, sich nicht zu weit von Russland zu entfernen; und das billige Gas war eine wichtige Voraussetzung für unsere prosperierende Wirtschaft. Merkel, Steinmeier und Schröder waren es nun wirklich nicht allein. Es stört mich, wie scheinbar schlau manche jetzt daherreden, jetzt, da es zu spät ist.

Was nun? Ein Ausbilder hat mir als jungem Volontär einmal gesagt, Journalisten sollten Fragen beantworten, nicht stellen. So gesehen habe ich diesmal kläglich versagt. Allein in dieser Kolumne finden Sie bis hierhin sage und schreibe 19 Fragezeichen. Andererseits: Was wäre die Alternative? (20) So zu tun, als wüsste man alles besser – selbst dann, wenn Experten mit der Schulter zucken? (21) Insofern lasse ich Sie heute mit vielen Fragen und der Gefühlsmischung aus Traurigkeit, Wut, Scham, Ohnmacht und Hilflosigkeit zurück. Es kommen bessere Tage. Oder? (22)

Auf bald.