Die Schulpolitik in NRW ist eine riesige Baustelle. Doch die CDU will ihren besten Mann hierfür nicht hergeben – aus egoistischen Gründen.

Fünf Tage vor Ferienbeginn flattert uns die schlechte Nachricht ins Haus, begleitet vom untröstlichen Schluchzen meines Sohnes: Drei Lehrerinnen, darunter seine von ihm geliebte und von uns geschätzte Klassenlehrerin, verlassen überraschend die städtische Grundschule in Wülfrath, um sich nach Duisburg abordnen zu lassen. Die Notlage der Schulen in Duisburg sei uns ja sicherlich „aus der Presse bekannt“, heißt es in dem Schreiben unserer Schulleitung. „Ja, allerdings“, denke ich. „WAZ gelesen, dabei gewesen!“ ist so ein geflügeltes Wort bei uns in der Redaktion. Der Schritt der drei Lehrerinnen sei „sehr zu begrüßen“, da die Not der Duisburger Schulen „wirklich groß“ sei. Ich blicke meinen verzweifelten Sohn und meine entsetzt blickende Frau an und lese den Sehr-zu-begrüßen-Satz noch einmal. Sicher hätten wir „Verständnis“, heißt es weiter – und zum Schluss wird für eben dieses „Verständnis“ dann auch wie selbstverständlich gedankt.

Eine mehr oder weniger offene Verhöhnung

Ich überlege, wann ich zum letzten Mal diese Floskel in einem Schreiben verwendet habe. „Sicher haben Sie Verständnis dafür, dass ...“ Vermutlich war es ein Schmähbrief. Jedenfalls war ich mir, als ich die Verständnis-Floskel selbst verwendet habe, ganz sicher, dass das Verständnis des Empfängers auf einer Skala von 1 (geringes Verständnis) bis 10 (hohes Verständnis) bei etwa minus 20 liegen dürfte, und ich ging zudem fest davon aus, dass eben jener Empfänger auch genau wissen wird, dass ich bei ihm in Wahrheit keinerlei Verständnis voraussetze, was aus einer, oberflächlich betrachtet, freundlichen Floskel wiederum eine mehr oder weniger offene Verhöhnung des Gegenübers macht. Friede? Freude? Pustekuchen!

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.

Aber lassen wir das und fassen zusammen. Allein in Duisburg fehlen 250 Lehrkräfte an den Grund- und Förderschulen. Es ist die Spitze des Eisbergs. Hektisch müssen nun die gröbsten Löcher gestopft werden – auch auf die Gefahr hin, dass das andere, bislang gut funktionierende Schulen in Schwierigkeiten bringt. Der ausgeprägte Lehrermangel in NRW ist und bleibt Teil einer riesigen Baustelle. Dazu gehören weiterhin fehlende Breitband-Internetanschlüsse, das von der rot-grünen Vor-Vorgängerregierung betriebene und längst gescheiterte Projekt „Inklusion“ und natürlich die unfassbaren Lerndefizite aller Schülerinnen und Schüler aufgrund der pandemiebedingten Schulschließungen.

Schwarz-Grün hat die Hausaufgaben nicht gemacht

Eltern und Großeltern schauen in diesen Tagen daher nicht nur gespannt auf die Zeugnisse ihrer Kinder und Enkel, sondern auch auf die Vorhaben einer schwarz-grünen Koalition im Schlüsselressort Schule. Immerhin steht im Koalitionsvertrag etwas von mehr Digitalisierung und mehr Lehrern. 10.000 Lehrerinnen und Lehrer sollten eingestellt werden, heißt es konkret. Was für eine schöne runde Zahl! Nicht 9.000, nicht 11.000 sollen es sein. 10.000. Wenn ich so etwas lese, dann erahne ich regelmäßig die Absicht, dass da jemand nicht einen echten Bedarf errechnet hat und abdecken will, sondern dass die runde Zahl als solche Eindruck schinden, dass sie etwas verkleistern soll. Wie die Koalitionäre in spe auf die 10.000 kommen und, wichtiger noch, wie das Ziel zu erreichen ist – dazu fehlen Angaben. In einer Kolumne zur Schulpolitik bin ich geneigt zu schreiben: Die haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht.

Offenkundig haben CDU und Grüne sehr darauf geachtet, ihr Image zu pflegen: Die Wirtschaft soll klimagerecht umgebaut werden, und in der Innenpolitik soll es weiter streng zugehen. Um nicht missverstanden zu werden: Zur Notwendigkeit, die Wirtschaft umzubauen, kann es keine zwei Meinungen geben; und die Kriminalität in NRW hart und konsequent zu bekämpfen, ist sicher auch kein Fehler. Aber man hatte als politischer Beobachter den Eindruck, dass sich die Parteien schnell mit diesen beiden Kernbotschaften zufriedengegeben haben.

Wie eine „heiße Kartoffel“ herumgereicht

Die Schulpolitik dagegen, die zu den wichtigsten und einflussreichsten Aufgaben der Landespolitik gehört, ist hinten runtergefallen. Bei den Personalfragen wurde das besonders deutlich. Die Grünen haben früh klargemacht, kein Interesse am Schulministerium zu haben. Das klebt nun an der CDU, und das beglückt auch die Christdemokraten um Ministerpräsident Hendrik Wüst nicht allzu sehr. Dabei steht keinem Ministerium ein größerer Etat zur Verfügung als dem Schulministerium. Landesweit geht es um 6000 Schulen, 200.000 Lehrkräfte und 2,5 Millionen Schülerinnen und Schüler. Mehr Einfluss geht nicht.

Dass die angehenden Koalitionäre das Schulministerium wie eine „heiße Kartoffel“ herumgereicht haben, hält die in die Opposition verbannte FDP für ein „Armutszeugnis“. Recht hat sie. Allerdings war es nicht zuletzt die von ihr gestellte Schulministerin Yvonne Gebauer, die ihr Haus in der abgewählten Regierung erst zu einer solchen „heißen Kartoffel“ gemacht hat. Der fatale Lerneffekt in der Politik war: Mit dem Ressort Schule kannst du nur verlieren. Jetzt verlieren wir alle. Mal wieder.

Herbert Reul wäre der Beste

Der beste Problemlöser wäre jemand, der mit Leidenschaft selbst Lehrer war, der Menschen umarmen und mitnehmen kann und wegen seiner natürlichen Autorität zugleich als durchsetzungsstark gilt. Diese Eigenschaften treffen alle auf einen Mann zu. Er heißt Herbert Reul. Reul wäre zuzutrauen, das Blaulicht einzuschalten und die große Baustelle Schule mit ebenso großer Leidenschaft und noch mehr Erfahrung anzugehen. Es würde seine erfolgreiche Karriere abrunden. Doch Reul soll und will weiter als Law-and-order-Innenminister den Markenkern der CDU schärfen.

Stattdessen ist die bisherige Kommunalministerin Ina Scharrenbach als Schulministerin im Gespräch, eine gelernte Betriebswirtin mit dem Schwerpunkt Controlling. Nun ja. Ober-Strippenzieher Nathanael Liminski, als Chef der Staatskanzlei bisher die Spinne im Netz der Landesregierung, will die unmittelbare Nähe zu Wüst behalten und wäre – obwohl auch ihm die große Aufgabe zuzutrauen ist – aufgrund seiner erzkatholischen Haltung in den Schulen nur schwer vermittelbar.

Wir wollen Reul! Wir wollen Reul!

Räumt die Tassen wieder in den Schrank und nehmt Reul!, möchte man Wüst kurz vor der Verkündung des CDU-Personaltableaus zurufen. Der Ruf wird wohl ungehört verhallen. Und da mich das als Vater zweier Schulkinder etwas verzweifeln lässt, haben Sie sicher Verständnis dafür, dass ich zum Schluss zur beruhigenden Selbstvergewisserung noch ein paar weitere abgedroschene Schul-Metaphern raushaue:

1. Hoffentlich macht diese Personalpolitik keine Schule!
2. So können wir Schwarz-Grün kein gutes Zeugnis ausstellen!
3. Wüst und Grünen-Chefin Mona Neubaur müssen in Sachen Schulpolitik noch einmal nachsitzen!

Ich bedanke mich für Ihr Verständnis und verbleibe mit einem freundlichen:

Auf bald!