Essen. Jährlich müssen in Deutschland etwa 94.000 Kinder wegen einer Vergiftung behandelt werden, so die Zahlen des Bundesinstituts für Risikobewertung. Und die Zahl steigt. Beim Giftnotruf NRW gehen mitunter 30 Anrufe pro Stunde ein. Wir erklären, wie Sie helfen können
Sie lutschen Omas Pillen, nuckeln an der Spülmittelflasche, kauen auf Zigarettenkippen herum – für Kleinkinder kann eine Entdeckungstour durch die Wohnung gefährlich werden. In ihrer Neugier stecken sie sich Sachen in den Mund, die gefährlich sind. Mit bösen Folgen. Jährlich müssen in Deutschland etwa 94.000 Kinder wegen einer Vergiftung behandelt werden, so die Zahlen des Bundesinstituts für Risikobewertung.
Betroffen sind sogar weit mehr, davon gehen die Giftinformationszentren aus, von denen es deutschlandweit neun gibt. Allein in der nordrhein-westfälischen Notrufzentrale in Bonn klingelt an manchen Tagen bis zu 30 Mal in der Stunde das Telefon. „Und es werden von Jahr zu Jahr mehr Anrufe“, sagt Professor Rainer Ganschow, der Leiter. Meist wird der Notruf von besorgten Eltern gewählt, die befürchten, dass sich ihr Kind vergiftet hat.
Dr. Claudio Finetti ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Essener Elisabeth-Krankenhaus. Auch er stellt fest, „dass sich die Vergiftungen in letzter Zeit häufen“. Gerade eben erst hat er wieder einen Notfall behandelt: ein Mädchen, drei Jahre alt, es hatte Antidepressiva geschluckt. „Das Kind hatte die bunten Pillen im Haushalt entdeckt und interessant gefunden. . .“ Es konnte gerettet werden. Aber in Fällen wie diesen kommt es auf jede Minute an. Es drohen Herz-Rhythmus-Störungen und Atemstillstand, der bis zum Tod führen kann.
Was Erwachsene tun können
Sie entdecken das Kind. Es wirkt benommen, ist vielleicht sogar bewusstlos. Das Wichtigste ist jetzt, Ruhe zu bewahren und wohl überlegt zu handeln. „Wenn das Kind noch Reste im Mund hat, sollten diese sofort entfernt werden“, rät Claudio Finetti. Folgen sollte ein Anruf bei der Giftnotrufzentrale in Bonn unter (0228) 19240. Dort beraten die Experten 24 Stunden täglich und für den Anrufer kostenlos. Und dann: Schnell zur nächsten Kinderklinik. „Für uns ist es wichtig, dass die Eltern etwas von der Substanz, die das Kind zu sich genommen hat, mitbringen“, sagt der Arzt. Gleich ob es nun Beeren vom Strauch der Nachbarn, der Allzweckreiniger aus der Küche oder Tabletten aus Omas Schrank sind, es sollte den Ärzten übergeben werden, so kann schneller die passende Behandlung eingeleitet werden.
Kostenlose App
Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat eine App für Smartphones herausgebracht.
„Vergiftungsunfälle bei Kindern“ (kostenlos für iOs und Android) mit Checkliste und Erste-Hilfe-Tipps. Von dort aus kann auch eine telefonische Verbindung zum Giftnotruf hergestellt werden.
Wenn die Erwachsenen nicht wissen, was passiert ist, ob es sich um eine Vergiftung handelt oder um etwas anderes, sollten sie zu Hause umgehend den Notarzt rufen.
Was die Ärzte tun
Üblich ist, dass in der Klinik unter anderem ein Urintest gemacht wird. Er kann Aufschluss über die Art und Schwere der Vergiftung geben. „Nach ein bis zwei Stunden bekommen wir die Ergebnisse aus dem Labor“, sagt Finetti. Bei der Behandlung hängt vieles davon ab, wie viel Zeit verstrichen ist. „In seltenen Fällen verabreichen wir ein Brechmittel, meistens empfiehlt sich die Behandlung mit Aktivkohle, oft über eine Magensonde.“ Der Vorteil: Aktivkohle bindet Giftstoffe.
Besser vorbeugen
Die meisten Betroffenen sind zwischen drei und vier Jahre alt, in dieser Zeit sind Kinder neugierig, wollen vieles ausprobieren. Am gefährlichsten ist für sie aber nicht etwa der Wald oder der Park um die Ecke, „denn dass Beeren und Pflanzen giftig sein können, steckt tief in den Köpfen der Erwachsenen drin“, stellt der Essener Chefarzt fest. Entsprechend aufmerksam falle ein Besuch aus. Weitaus gefährlicher seien das eigene Zuhause und das häusliche Umfeld. Hier krabbelt oder läuft der Nachwuchs auch alleine herum, und schon passiert’s. Nicht ahnend, welche Gefahr droht, landen giftige Sachen im Mund.
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Deshalb, so der ärztliche Rat, sollten Medikamente weggeschlossen werden und Spül- und Putzmittel in den oberen Fächern der Schränke kindersicher verschwinden. Dazu gehören auch die Spülmaschinentabs. „Von ihnen geht eine große Gefahr aus. Sie sind oft bunt und erinnern die Kinder an Brausetabletten“, sagt Dr. Wolfram Hartmann aus Kreuztal, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte.
Achtung, besonders gefährlich
Was Erwachsenen hilft, kann Kleinkinder vergiften. Beispiel Schmerzmittel. „Schon wenige Tabletten reichen aus, um Leber oder Niere eines Kleinkindes nachhaltig zu schädigen“, so Claudio Finetti. Er warnt auch vor Babypuder. Atmet ein Kleinkind dieses ein, könne das Puder verklumpen und das Kind schlimmstenfalls ersticken. Ein großes Thema beim Kinderärzteverband: „Wir geben für den Einsatz von Babypuder keine Empfehlung mehr ab. Dieses Mittel sollte nicht angewendet werden“, sagt Präsident Hartmann.
Und noch etwas: Spielzeug und Nüsse können gefährlich werden. Wenn das Kind kleine Teile verschluckt, werden diese zwar meist ausgeschieden, könnten aber auch in der Speiseröhre hängen bleiben. Nüsse sollten Kinder unter vier am besten gar nicht erst in die Finger bekommen, denn laut Finetti können Erdnüsse leicht in die Lunge rutschen.