Heidelberg. So flexibel und effizient wie heute ist das deutsche Rettungswesen erst seit 50 Jahren. In Heidelberg entstand 1964 die Idee, das System der Notfallrettung zu ändern. Seither fahren Rettungswagen und Notarzt getrennt zum “Rendezvous“ am Unfallort.
Die Nacht hat gerade erst angefangen. Der Heidelberger Notarzt Lutz Frankenstein beißt in seinen Döner. Da meldet sich sein Alarm-Piepser. Das Essen muss warten. Der 40-Jährige und ein Rettungssanitäter springen in das Notarzteinsatzfahrzeug (NEF). Es ist jedes Mal dem Zufall überlassen, was für eine Nacht vor ihnen liegt - und wie emotional die Einsätze werden. "Kindernotfälle sind zum Beispiel immer schwierig. Ich bin dann innerlich sehr angespannt", erzählt der Notarzt.
Umso glücklicher ist er, wenn er Leben retten kann: "Ein kleines Mädchen erstickte nachts fast an den Folgen einer schweren Nachblutung nach einer Mandelentfernung", erinnert er sich. "Als ich in die Wohnung kam, sah es zuerst aus, als ob das Mädchen demnächst tot sei." Er habe sie aber stabil ins Krankenhaus bringen können: "Sie hat überlebt."
Seit 50 Jahren fahren in Heidelberg Notärzte rund um die Uhr zu Unfallorten oder zu Notfallpatienten nach Hause. Im April 1964 wurde an der Chirurgischen Universitätsklinik der Stadt Deutschlands erstes Notarzteinsatzfahrzeug in Dienst gestellt - ein VW Käfer. Der Wagen mit dem Polizeifunknamen "Heidelberg 10" war nicht nur in Medizinerkreisen legendär. Er wurde bundesweit zum Vorbild für die ärztliche Erstversorgung von Notfallpatienten am Unfallort.
Rettungswagen fährt Patienten ins Krankenhaus
Neu daran war, dass das frühere Rettungssystem, bei dem ein Rettungswagen mit medizinischen Instrumenten UND Notarzt an Bord, überarbeitet wurde. Diese Idee wurde umgesetzt: Der Notarzt gehört nicht mehr zur Besatzung des Rettungswagens, sondern er kommt separat in einem NEF zum Unfallort, leistet dort medizinische Hilfe und kann unmittelbar danach zum nächsten "Rendezvous" an einen anderen Unfallort fahren. Derweil fährt der Rettungswagen den Patienten in ein Krankenhaus.
Auch interessant
Damit soll Patienten so schnell wie möglich geholfen werden, da die Lebensgefahr in den ersten Minuten nach einem Notfall am größten ist. "Der Vorteil des Rendezvous-Systems ist die höhere Flexibilität des Notarztes im Einsatz", sagt Peter Sefrin von der Bundesvereinigung der Notärzte.
Mit Blaulicht geht es durch die Universitätsstadt und dann mit 180 über die Autobahn in eine Gemeinde im Umland. Fahrer und Notarzt sprechen kein Wort. Wenige Minuten später treffen sie vor dem Haus einer 80-jährigen Frau ein. Die Tochter wartet vor der Tür, ein Rettungswagen ist schon da. Wegen Herzproblemen wird die Patientin in ein Heidelberger Krankenhaus gebracht.
"Man ist immer emotional eingebunden"
"Die Notarzteinsatzfahrzeuge waren zuerst für die Unfallopfer im Straßenverkehr gedacht", sagt der Leiter der Notfallmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg, Erik Popp. "Das hat sich später geändert. Wir versuchen, jedes Ziel in 10 bis 15 Minuten nach der Alarmierung mit dem Auto zu erreichen. In Stoßzeiten ist das aber immer eine Herausforderung und sehr gefährlich." Einmal pro Woche fliegt er mit einem in Mannheim stationierten Rettungshubschrauber mit. Von dort werden auch entlegene Gebiete wie der angrenzende Odenwald angeflogen. "Mit dem Auto würden wir hier zu spät kommen."
Auch interessant
1964 gab es in Westdeutschland laut Statistischem Bundesamt bei Verkehrsunfällen jährlich noch rund 16 500 Tote und 446 000 Verletzte. Zum Vergleich: Im heutigen Bundesgebiet waren es 2013 nach vorläufigen Ergebnissen 3340 Verkehrstote und 377 388 Verletzte.
Nach vier Einsätzen in seiner 24-Stunden-Schicht kommt Notarzt Frankenstein nach Mitternacht für einige Minuten zur Ruhe. Viele Einsätze gehen ihm später nicht mehr aus dem Kopf. "Man ist immer emotional eingebunden und muss mit dem Schlimmsten rechnen", sagt er. Über die Leitzentrale werde er zwar grob darüber informiert, was ihn erwarte - aber die Realität sehe dann meist doch ganz anders aus. (dpa)