Halle. Sport fördert zwar die Gesundheit, doch wer keine Grenze findet, verfällt schnell einer psychologischen Sucht. Besonders im Ausdauersport ist das Risiko nicht zu unterschätzen. Spätestens, wenn der Sport beginnt, den Alltag zu bestimmen, sollte man sich laut Experten Hilfe suchen.
Am Anfang waren es drei, vier Kilometer. Zweimal die Woche, der Fitness wegen und um etwas abzunehmen. Dann wurde es immer mehr: längere Strecken, häufigere Termine, bis die junge Frau mindestens einmal täglich die Laufschuhe schnürte und Symptome wie nervöse Unruhe und Magenschmerzen entwickelte, sobald ihr etwas dazwischen kam. "Wenn jemand einen so zwanghaften Drang verspürt, Sport zu treiben, dass der Verzicht auf seine gewohnte Dosis ihn psychisch oder sogar körperlich leiden lässt, ist das nicht normal", erklärt Jens Kleinert, Professor für Sport- und Gesundheitspsychologie an der Deutschen Sporthochschule Köln. "Man kann da schon von Suchtverhalten sprechen."
Sportsucht gehört zu den Verhaltenssüchten. Sie ist allerdings ebenso wenig in psychologischen Diagnosehandbüchern zu finden wie andere Vertreter dieser Gruppe - Shopping- oder Sexsucht etwa. Der Grund ist, dass das Phänomen bisher kaum erforscht wurde. Das liegt daran, dass es nur sehr wenige Sportsüchtige gibt. "Ausgehend von einer Studie, die wir mit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen durchgeführt haben, würde ich sagen, dass die Krankheitshäufigkeit unter den intensiv Sporttreibenden bei ein bis drei Prozent liegt", sagt Prof. Oliver Stoll von der Universität Halle-Wittenberg.
Ausdauersportler am stärksten gefährdet
Im Rahmen der Studie wurden 1089 Frauen und Männer, die einen Ausdauersport wie Laufen oder Radfahren betreiben, zu ihren Trainingsgewohnheiten befragt. Etwa jeder 20. zeigte Anzeichen einer Sportsucht oder Sportsuchtgefährdung. "Vielleicht liegt es auch daran, dass sie sehr bereitwillig über ihr exzessives Trainieren sprechen: Fest steht, dass Ausdauersportler mit das höchste Erkrankungsrisiko zu haben scheinen", erklärt Stoll. Weitere Risikogruppen seien Kraftsportler, von denen einige muskelsüchtig werden, und Extremsportler, die von einem Adrenalinkick zum nächsten jagen. Menschen mit Körperwahrnehmungsstörungen wie Magersucht seien ebenfalls gefährdet.
Bei letzteren tritt die Sportsucht nicht eigenständig auf, sondern entwickelt sich aus dem zwanghaften Streben nach dem in ihren Augen perfekten Körper. "Im Fokus steht etwa, weiter abzunehmen oder Fressanfälle auszugleichen. Deshalb spricht man hier von sekundärer Abhängigkeit", erläutert Kleinert. Sie werde wesentlich häufiger diagnostiziert als die reine (primäre) Sportsucht. Die Symptome sind jedoch weitgehend gleich.
Kein Zeit für Regeneration
Einen Sportsüchtigen erkennt man daran, dass Sport nicht nur Teil seines Lebens ist, sondern es bestimmt. Er sei wie besessen davon und trainiere nicht, weil er Lust darauf habe, sondern einen unkontrollierbaren Drang dazu verspüre, erklärt Prof. Thomas Schack, Vizepräsident der Internationalen Gesellschaft für Sportpsychologie. Dabei werde die Dosis kontinuierlich erhöht. Denn der Körper verlange in immer größerer Menge nach dem "rauschhaften Wohlgefühl", in den ihn die beim Sport ausgeschütteten Botenstoffe wie Dopamin versetzen. Ein erzwungener Verzicht könne Entzugssymptome wie Kopf- und Magenschmerzen, Nervosität oder Depressionen auslösen.
Ein so extremes Verhalten hat Folgen. Irgendwann verdrängen die negativen Trainingseffekte zunehmend die positiven. Am schwerwiegendsten sind die möglichen Gesundheitsschäden. "Auf Dauer kann das exzessive Trainingsverhalten dazu führen, dass der Körper sich nicht mehr regenerieren kann und es zu einem Übertrainingseffekt kommt, der mit Symptomen wie Schlaflosigkeit, Kopfschmerz oder Muskelbeschwerden einhergeht", sagt Kleinert. Außerdem könne die hohe körperliche Belastung langfristig das Immunsystem schwächen oder Herzkreislaufprobleme und einen vorzeitigen Verschleiß von Gelenken, Knochen und Sehnen nach sich ziehen.
Sportsucht kann zu sozialer Isolation führen
Hinzu kommt, dass Sportsüchtige oft auch dann weitertrainieren, wenn sie verletzt oder krank sind. "Ich kenne Fälle, in denen mit nichtverheilten Brüchen oder Bänderrissen trainiert wurde, was zu bleibenden Schäden führen kann", warnt Schack. "Und teils wird es sogar lebensgefährlich: Etwa, wenn Läufer trotz eines Infekts und eines Verbots vom Arzt zu einem Marathon antreten ? hier besteht das Risiko eines Herzstillstands."
Konsequenzen kann die Sportsucht aber auch auf psychosozialer Ebene haben: "Die Betroffenen stehen ständig unter Druck und fühlen sich so getrieben von ihrem Sportdrang, dass sie gar nicht mehr richtig zur Ruhe kommen", schildert Stoll. "Manche stehen sogar mitten in der Nacht auf, um zu trainieren." Auf Dauer könne das sehr belastend sein. Das gilt auch für die soziale Isolation, in die Sportsüchtige zunehmend geraten, weil sie Freunde und Familie links liegen lassen.
Ein Therapeut reicht oft nicht aus
Damit es nicht so weit kommt, empfehlen die Experten, das eigene Trainingsverhalten kritisch zu hinterfragen, sobald sich Warnzeichen bemerkbar machen. "Wenn die Grenze von Sportleidenschaft zu Sportsucht überschritten ist, heißt es, einen Therapeuten zurate zu ziehen", sagt Schack. Dieser könne Betroffenen Strategien an die Hand geben, mit denen sie vom exzessiven zum normalen Sporttreiben zurückfinden. Wichtig ist auch, das Problem an der Wurzel packen: indem der Betroffene gemeinsam mit dem Therapeuten herausfindet, woher sein Suchtverhalten kommt und es aufarbeitet. Häufige Auslöser sind Traumata oder eine gestörte Selbstwahrnehmung.
Die Therapeutensuche ist allerdings nicht ganz einfach. Denn Sportpsychologen sind in der Regel nicht dazu ausgebildet, psychiatrische Störungen zu behandeln. Und klassischen klinischen Psychologen und Psychiatern fehlt meist das sportliche Know-How, um beim Erstellen eines gesunden Trainingsplans zu helfen. Daher empfiehlt sich eine kombinierte Behandlung - entweder bei zwei Therapeuten oder in einer auf Sportsucht spezialisierten Einrichtung. (dpa)