Berlin. Die Krankenkassen kümmern sich vorbildlich um ihre Patienten - zumindest in ihren Hochglanzbroschüren. Doch in der Realität stoßen die Mitarbeiter den Kranken vor den Kopf und verweigern Leistungen, wie im Fall der 46-jährigen Christine M.
Die Mitteilung der Krankenkasse war für die 46-jährige Christine M. ein Schock. Trotz schwerer Depression sollte sie von einem Tag auf den anderen kein Krankengeld mehr bekommen. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) hatte rein nach Aktenlage entschieden: Die Pflegerin im Schichtdienst sei wieder gesund.
Selbst die an schweres Leid gewohnten Mitarbeiter der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) sind verblüfft, wie oft und hartleibig deutsche Krankenkassen in den vergangenen zwölf Monaten Krankengeld verweigerten. Und es ist nur einer von vielen Bereichen, in denen Patienten nicht zu ihren Leistungen, zu ihrem Recht kamen.
Christine M. hatte das Gefühl, wieder in ein tiefes Loch zu fallen. Wovon sollte sie fortan leben? Vor allem aber verstand sie nicht, wie der MDK ohne jede Untersuchung so ein harsches Urteil fällen konnte. Denn ihr Arzt hatte sie erst kurz vorher wieder krankgeschrieben.
Viele Beschwerden zum Thema Krankengeld
75.000 Patientenbeschwerden und -fragen nahmen sich die UPD-Berater zwischen Anfang April 2012 und Ende März 2013 an. Nun haben sie analysiert, wo demnach die größten Probleme für die Patienten im Gesundheitswesen lauern. "Was erstaunlich war, ist die hohe Relevanz des Themas Krankengeld", sagt UPD-Geschäftsführer Sebastian Schmidt-Kaehler. "Das haben wir so nicht erwartet."
Genau 4761 Mal fragten deshalb Patienten um Rat - oft überfordert und orientierungslos. Denn oft wollen Kassen die Patienten nach Erkenntnissen der Berater zur Rentenversicherung drängen. Mit der Folge, dass die Betroffenen neue Problem bekommen und nicht wissen, wer für sie zuständig ist. "Da geht es ja letztlich um die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit, um den Unterhalt, den man bestreiten muss", sagt Schmidt-Kaehler.
Ausgaben der Kassen für Krankengeld gestiegen
Wieviel Geld die Kassen durch verweigertes Krankengeld sparen, weiß niemand. Auch nicht, wie viele solche Fälle es bei den 70 Millionen Versicherten insgesamt gibt. Allerdings ist bekannt, dass die Ausgaben der Kassen für Krankengeld innerhalb der letzten fünf Jahre um mehr als drei Milliarden Euro auf über neun Milliarden Euro gestiegen sind.
Der Bundespatientenbeauftragte Wolfgang Zöller (CSU) zeigt sich dennoch in Sorge: Kassenmitarbeiter wollten Betroffene oft am Telefon dazu bringen, wieder zur Arbeit zu gehen - auch psychisch Kranke mit ihren oft langen Krankheitsphasen. "Gerade psychisch Kranke unter Druck zu setzen, ist keine humane Art", sagt Zöller.
Krankenkassen-Spitzenverband will Beschwerden analysieren
Der Krankenkassen-Spitzenverband verspricht, die Kassen nähmen Beschwerden ernst. "Wir hoffen, möglichst rasch von der Patientenberatung die detaillierten Informationen zu bekommen, um sie analysieren zu können", sagt Sprecher Florian Lanz. Sozialverbände fordern eine aufschiebende Wirkung, wenn man gegen einen negativen Bescheid der Kasse Widerspruch einlegt.
Ein Dauerbrenner bei der Beratung sind Zahnbehandlungen. Das Problem: Viel muss von den Versicherten selbst gezahlt werden. Die UPD nennt das Beispiel von Isolde T. Der 66-Jährigen tat noch sieben Monate nach dem Einsetzen von Zahnersatz der Mund weh. Die Prothese wollte trotz vieler Termine im Zahnarztstuhl nicht passen. Ein Gutachter im Auftrag der Kasse stellte nur geringe Mängel fest. Sie hatte schon alles bezahlt - und sah nun keine Möglichkeit, ohne große Mehrausgaben zu einem ordentlichen Gebiss zu kommen.
In 1944 Fällen wollten Versicherte wissen, ob die vom Zahnarzt oder -labor ausgestellten Rechnungen nicht zu hoch sind. 1293 Mal wurden sie bei den Beratern vorstellig, weil sie meinten, notwendige Therapien nicht zu bekommen, 1941 Mal fühlten sie sich irgendwie unangemessen behandelt. Da bekannt ist, dass es jährlich rund 40.000 Verdachtsfälle auf Behandlungsfehler gibt, ist es nicht verwunderlich, dass 6781 Patienten auch deshalb zur UPD gingen.(dpa)