Bochum/Berlin. . Bei psychischen Problemen bekommen Patienten offenbar zu häufig und zu schnell von ihrem Arzt Psychopharmaka verschrieben. Dies sei “leider oft noch gängige Praxis“, sagt Georg Juckel, Direktor der psychiatrischen Klinik der Ruhr-Uni Bochum. Besonders gefährlich: so genannten Benzodiazepine, die leicht abhängig machen. Juckel schätzt, dass es in Deutschland zwei Millionen Benzodiazepin-Süchtige gibt.

Viele Hausärzte ­verschreiben offenbar ohne aus­reichende Diagnose stark abhängig machende Psychopharmaka. „Es sind keine Einzelfälle, es ist leider oft noch gängige Praxis“, sagte Georg Juckel, Direktor der psychiatrischen Klinik der Ruhr-Universität ­Bochum. Betroffen sind überwiegend Frauen.

Er beobachte mit Sorge jene Kollegen, die Patienten über lange Zeit mit Benzodiazepinen, also klassischen Schlaf- und Beruhigungs­mitteln, behandelten, so Juckel. Die Ursache sieht er vor allem im Praxisalltag: „Die meisten Hausärzte, zumal hier im Ruhrgebiet, sind völlig überlaufen. Viele haben pro Patient nur wenige Minuten Zeit. Und dann sitzt da jemand und klagt über ­Unruhe, Angst, Schlafstörungen.“ Natürlich werde versucht, die zutreffende Diagnose rasch zu stellen. „Es gibt aber Kollegen, die aus Zeitnot und dem hohen Leidens- und Erwartungsdruck der Patienten sehr schnell Benzodiazepine verordnen.“ Medikamente, die laut Juckel, nach einigen Wochen bereits zu schwerer Abhängigkeit führen.

Viele Hausärzte in Ballungsräumen "hoffnungslos überlastet"

Andreas Marian vom Hausärzteverband Nordrhein bestätigt das: „In den Ballungsräumen sind viele Kollegen hoffnungslos überlastet.“ Die Verzahnung von Hausarzt, Facharzt und Fachklinik sei in NRW schlechter als in anderen Bundesländern. Und es gebe „diese Altlast: Patienten, die seit Jahrzehnten Benzodiazepine nehmen, ohne dass es eine richtige Diagnose dazu gibt.“

Bei den meisten Kollegen sei das Problembewusstsein aber sehr groß, glaubt Norbert Hartmann vom Hausärzteverband Westfalen-Lippe. Es gebe allerdings auch gute Gründe, „bei bestimmten Krankheiten kurzfristig Benzodiazepine zu geben“. Etwa in der Palliativmedizin. Darüber hinaus gibt Hartmann zu Bedenken: „Patienten, die seit Jahren Benzodiazepine nehmen, sind darauf angewiesen. Nähme man ­ihnen das Medikament weg, würden sie möglicherweise krank werden.“

Der Bochumer Psychiater Juckel weist indes auf die Gefahren dieser Medikamentengruppe hin. Bei ­Patienten reduziere sich die Reaktionsgeschwindigkeit, Ältere verletzten sich bei nächtlichen Stürzen. ­Juckel: „Viele fahren mit Benzodiazepinen im Körper Auto, was vermutlich Unfälle unbekannter Größe verursacht.“

Juckel schätzt, dass es in Deutschland etwa zwei Millionen Benzodiazepin-Abhängige gibt.