Berlin. . Georg Juckel, Direktor der psychiatrischen Klinik der Ruhr-Universität Bochum, erklärt im Interview, warum vor allem ältere Frauen mit abhängig machenden Schlaf- und Beruhigungsmitteln behandelt werden.

Das Wartezimmer ist voll, die Zeit knapp, aber der Leidensdruck hoch: Georg Juckel, Direktor der psychiatrischen Klinik der Ruhr-Universität Bochum, sieht mit Sorge, dass noch immer Hausärzte Patienten wider besseres Wissen mit abhängig machenden Benzodiazepinen, also klassischen Schlaf- und Beruhigungsmitteln, behandeln. „Es sind keine Einzelfälle, es ist leider oft noch gängige Praxis.“ Im Gespräch mit Julia Emmrich erklärt der Psychiater, warum besonders ältere Frauen davon betroffen sind.

Was ist denn mit den Frauen los? Warum verschreiben Ärzte ihren Patientinnen deutlich mehr Psychopharmaka als Männern?

Georg Juckel: Es gibt zwei wichtige Gründe. Erstens: Ärzte diagnostizieren bei Frauen doppelt so oft eine Depression, auch Angststörungen und andere psychische Störungen kommen häufiger vor als bei Männern. Zweitens: Frauen gehen mit psychischen Erkrankungen anders um als Männer. Allein durch die hormonelle Veränderung im Zyklus sind sie es gewohnt, in sich hinein zu horchen. Sie sprechen auch eher über seelische Beschwerden und suchen schneller Hilfe. Aber die Männer holen langsam auf. Das liegt auch an der öffentlichen Debatte über Burn-Out und die Volkskrankheit Depression. Viele Männer sind heute eher bereit, auf psychische Signale zu achten.

Ältere Frauen bekommen besonders oft Antidepressiva, Schlaf- oder Beruhigungsmittel. Warum?

Frauen erkranken zwischen 45 und 55 Jahren, also während der Wechseljahre, stärker an Depressionen, Angststörungen und Süchten als in anderen Lebensphasen. Bei älteren Frauen über 65 Jahre, kann eine Depression aber auch bereits der erste Hinweis auf eine beginnende Demenz sein. Bei plötzlichen Stimmungsschwankungen, grundloser Schwermut oder Gereiztheit sollte man hellhörig werden. Auch in solchen Fällen werden dann zunächst einmal Antidepressiva verordnet.

Nur ein paar Minuten Zeit pro Patient

Nehmen sich die Ärzte denn auch genug Zeit, um genau hinzuschauen? Experten kritisieren, dass viele Hausärzte Psychopharmaka ohne ausreichende Diagnose verschreiben.

Die meisten Hausärzte sind völlig überlaufen. Viele haben pro Patient nur wenige Minuten Zeit. Natürlich wird versucht, die zutreffende Diagnose rasch zu stellen. Und dann sitzt da jemand und klagt über Unruhe, Angst, Schlafstörungen. Zum Teil wird erst mal abgewartet, viele verschreiben dann ein leichtes Antidepressivum oder auch ein leichtes Beruhigungsmittel, das nicht abhängig macht. Es gibt aber auch Kollegen, die aus Zeitnot und dem hohen Leidens- und Erwartungsdruck der Patienten in solchen Fällen sehr schnell Benzodiazepine geben, also die klassischen Schlaf – und Beruhigungsmittel, die bei Gebrauch länger als ein paar Tage oder wenige Wochen zu schweren Abhängigkeiten führen.

Warum überweisen die überlasteten Hausärzte nicht an einen Fachkollegen?

Viele tun das ja. Doch auch dort gibt es mittlerweile lange Wartezeiten – manche Patienten warten zum Teil sogar mehrere Monate auf einen Termin. Auch auf eine Psychotherapie muss man durchschnittlich sechs Monate und länger warten, auf eine Psychoanalyse oft sogar zwei Jahre.

Ungefähr zwei Millionen Benzodiazepin-Abhängige

Also bleibt vieles an den Hausärzten hängen.

Genau. Das Wartezimmer ist voll, der Patient steht gequält vor einem und will rasche Hilfe. Da greift mancher Kollege eben wie früher zum Tavor-Rezept. Das war damals ja auch Uwe Barschels Droge. Es wirkt wie Valium, der Patient ist dankbar, der Doktor hat geholfen, Haken dran. So läuft das leider. Und es sind keine Einzelfälle, es ist leider oft noch gängige Praxis. Manche Hausärzte geben zudem auch immer noch wöchentlich die Imap-Spritze. Das ist ein hoch wirksames Anti-Psychotikum mit teilweise starken motorischen Nebenwirkungen, das wir in der Klinik überhaupt nur noch, aber selten bei akuten Psychosen einsetzen. Es ist definitiv kein Beruhigungsmittel.

Die Folgen?

In Deutschland gibt es ungefähr zwei Millionen Benzodiazepin-Abhängige, die Dunkelziffer liegt weit höher. Man braucht ja kein Kassenrezept dafür. Vieles läuft über Privatrezepte und Internethandel. Oxazepam, Lorazepam, Diazepam – das sind leider immer noch gängige Medikamente.

Wie wirken sie?

Die Patienten haben das Gefühl „alles ist in Watte“ und „gut“. Tatsächlich aber ist die Reaktionsgeschwindigkeit reduziert. Die Muskeln werden weich, besonders Ältere verletzen sich bei nächtlichen Stürzen. Hinzu kommt: Viele fahren mit Benzodiazepinen im Körper Auto, was vermutlich Unfälle in unbekannter Größe verursacht.

Viele Deutsche sind skeptisch bei Pillen und Chemie

Die am häufigsten verordneten Psychopharmaka sind heute allerdings Antidepressiva. Gibt es da Bedenken?

Nein. Antidepressiva helfen gegen zwei Volkskrankheiten: Depressionen und Angststörungen. Sie können zwar Nebenwirkungen verursachen – das betrifft aber nicht mal jeden Zehnten. Eine Abhängigkeit wie bei den Benzodiazepinen entwickelt sich hier definitiv nicht.

Besteht die Gefahr, dass Antidepressiva von Gesunden als stimmungsaufhellende Lifestyle-Droge geschluckt werden?

So wie Prozac in den USA? Es wird hier solche Leute auch geben. Aber einen breiten Trend gibt es nicht. Die meisten Deutschen sind grundsätzlich eher skeptisch, was Pillen und Chemie angeht.