London. . Tony Nicklinson will sterben. Der 58-jährige Engländer ist gelähmt und kann nicht mehr sprechen. Mit den Augen steuert er seinen Computer und lässt über Twitter die Welt an seinem Schicksal teilhaben. Vor Gericht streitet er jetzt um sein Recht, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Tony Nicklinson war ein erfolgreicher Ingenieur und spielte gerne Rugby. Während eines Griechenland-Urlaubs im Jahr 2005 erlitt er einen Schlaganfall, der sein Leben dramatisch veränderte. Tony Nicklinson leidet seitdem am Locked-In-Syndrom: Der 58-Jährige ist gelähmt und kann nicht mehr sprechen. Nur blinzeln ist noch möglich - und so hat der Engländer innerhalb weniger Tage die ganze Welt auf sein Schicksal aufmerksam gemacht.
Tony Nicklinson twittert. Mit den Augen steuert er eine Buchstabentafel an, und ein Computer-Programm überträgt die Kommunikation ins Netz. Mühsam ist das, jedes Wort eine riesige Anstrengung, aber für den Kurznachrichten-Dienst sind die einfachen Botschaften bestens geeignet. „Hallo Welt! Ich bin Tony Nicklinson und leide am Locked-In-Syndrom“, lautete der erste Tweet, der eine riesige Welle der Anteilnahme, aber auch brisante Diskussionen auslöste. Der Engländer startete den Dialog mit der Welt nämlich kurz vor einem Prozess vor dem britischen High Court, mit dem er sein Recht auf Sterben einklagen will.
„Ich möchte nicht noch weitere 20 Jahre auf dieses Weise verbringen müssen“
„Dies ist kein Leben mehr“, heißt es in seiner Stellungnahme, die Nicklinsons Anwalt zum Auftakt der Verhandlung vor dem obersten britischen Gericht verlas. „Ich bin in jeder Beziehung auf fremde Hilfe angewiesen, habe keine privaten Momente mehr, keinerlei Würde. Ich bin am Ende und möchte nicht noch weitere 20 Jahre auf diese Weise verbringen müssen.“ Fast sieben Jahre habe er Zeit gehabt, über seine Situation nachzudenken, und weil eine Besserung, gar eine Heilung, völlig ausgeschlossen sei, stehe der Entschluss fest. Tony Nicklinson will sterben.
Dieser Wunsch stößt allerdings auf erheblichen Widerstand. Allein kann der zu keiner Bewegung fähige Mann sich das Leben nicht nehmen. Jegliche Beihilfe zum Selbstmord wird in Großbritannien als Mord gewertet und mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet. Hilfe im Ausland zu suchen, kommt für Nicklinson nicht in Frage. Das Geld für solch eine teure Reise habe er nicht, und außerdem sehe er es nicht ein, dass sich der Staat vor der Lösung solch eines Problems drücke. „Wenn man den Tod ins Ausland exportieren will, soll man wenigstens die Reise bezahlen, diese feigen Politiker sollten nicht aus der Verantwortung entlassen werden “, klagte er in einer seiner Botschaften, die inzwischen von immer mehr Menschen vernommen werden.
Zehntausende verfolgen Tony Nicklinsons Einträge auf Twitter
War der erste Tweet noch ein Minderheiten-Programm, wächst die Zahl der „Follower“ inzwischen wie eine Lawine. Knapp zweitausend am letzten Wochenende, 8000 am Montag, und am Donnerstag Mittag waren es bereits 38 434 Twitter-Abonnenten, die Tony Nicklinsons Botschaften verfolgen. Mit heiterem Zwitschern haben diese Tweets allerdings nichts zu tun. Traurig geht es zu, „Melde mich ab, muss weinen“, lautet eine der erschütternden Botschaften, und auf die Frage nach den letzten sieben Jahren seines Lebens antwortete der 58-Jährige: „Unbequem, sitze sechs Stunden in einem Sessel, ohne mich bewegen zu können, würdelos, werde gefüttert wie ein Baby, erniedrigend, weine vor den Pflegekräften, degradierend, hänge in einer Schlinge über der Toilette.“
In Großbritannien hat Tony Nicklinsons Schicksal eine heftige Debatte ausgelöst. In Leitartikeln wird der High Court, der gleichzeitig noch einen weiteren Fall von Sterbehilfe verhandelt, zu einer Neuordnung der einschlägigen Gesetze aufgefordert. Gegner einer Liberalisierung verweisen auf den Schutz jeglichen Lebens und warnen vor einem „Dammbruch“.
Tony Nicklinson hofft auf einen Sieg vor Gericht, lehnt aber wie seine Ehefrau Jane die üblichen Kategorien eigentlich ab: „Hier gibt es kein Happy-End, höchstens einen guten Ausgang, wenn die Richter einem Arzt, der meinem Mann helfen will, Rückendeckung geben könnten.“ Bleibt die Sterbehilfe verboten, stehen Tony Nicklinson kaum noch Auswege offen. Ein vom Locked-In-Syndrom Betroffener bleibt anders als ein Mensch im Wachkoma stets Herr seiner Sinne und kann ohne weiteres noch zwanzig Jahre und mehr leben. Tony Nicklinson könnte sich zu Tode hungern, auch das hat er bereit angekündigt, eine furchtbare Tortur für ihn und seine Angehörigen, oder auf ein Schicksal hoffen, das jeden anderen wie ein Keulenschlag treffen würde: „Wenn ich Glück habe, erkranke ich an Krebs.“