Essen. . Nach einer Studie werden im Jahr 2030 rund 87 200 Fachkräfte im Gesundheitswesen und in der Altenpflege fehlen. Nach der Prognose drohen in der ambulanten und stationären Pflege Probleme. Der große Knick droht ab 2020.
Wir schreiben das Jahr 2011 – das „Jahr der Pflege“, wie es der damalige Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) getauft hatte. Doch die Betroffenen haben davon noch nichts gemerkt. Die Pflegereform wird in diesem Jahr nicht kommen. Und darüber, wie sie aussehen soll, sind sich FDP und Union nicht einig. Klar ist bisher nur: Das absehbar größte Problem, der wachsende Mangel an Pflegekräften, wird einmal mehr ausgeklammert.
Mit 3,7 Millionen Beschäftigten arbeiten so viele Menschen im Gesundheitswesen und in der Pflege, wie in keiner anderen Branche. Und doch sind es zu wenige – heute bereits und erst recht in der Zukunft. In einer alternden Gesellschaft werden Krankenhäuser, Pflegeheime und -dienste mehr zu tun bekommen. Der große Knick kommt 2020: Dann gehen jene Babyboomer aus den 50er Jahren in Rente, die selbst nur wenige Kinder bekommen haben. Wer soll sie dann pflegen?
Mehr junge Menschen für Pflegeberufe zu begeistern, ist eine echte Herausforderung, denn der Ruf der Pflege ist heute denkbar schlecht: Nach rund acht Jahren verlassen Altenpfleger ihren Beruf wieder, Krankenschwestern steigen nach rund 15 Jahren aus.
Begeisterung im Beruf
„Die meisten starten mit großer Begeisterung in den Beruf, sie wollen anderen Menschen helfen. Doch dann merken sie, dass sie kaum Zeit haben, sich wirklich zu kümmern“, sagt Michael Burkhart, Bereichsleiter Gesundheit bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Pricewaterhouse Coopers (PwC). Sie hat aus 40 Millionen Daten eine Prognose zum Pflegemangel in NRW erstellt. Schon heute fehlen demnach 24 000 Fachkräfte. „Der Mangel wird bisher durch Überstunden und aufgeschobenen Urlaub kompensiert. Das führt schnell zur Überlastung der Mitarbeiter“, sagt Burkhart.
Bessere Arbeitsbedingungen seien deshalb der größte Hebel, um dem Mangel zu begegnen. Der wird in NRW gewaltig und größer als in jedem anderen Bundesland. PwC hat berechnet, was passiert, wenn die Berufseinstiegs- und Ausstiegsquoten bleiben wie sie sind: In NRW werden 2020 bereits 42 000 Fachkräfte fehlen und 2030 sogar 87 200.
27 Prozent zu wenige Pfleger
Das trifft vor allem die Altenpflege: Die heutige Lücke von 2600 Fachkräften wird bis 2030 auf 38 600 wachsen. Damit wird jede dritte der eigentlich benötigten 116 000 Stellen nicht besetzt sein.
Auch in den Kliniken und Praxen prognostiziert PwC einen enormen Mangel von 40 900 Fachkräften im Jahr 2030. Im Verhältnis zum benötigten Personal von 151 000 sind das 27 Prozent zu wenige Pfleger und Ärzte.
Doch PwC hat auch andere Szenarien durchgerechnet. Längere Arbeitszeit und späterer Renteneintritt sind die üblichen Stellschrauben. Nach den PwC-Berechnungen bringen sie in der Pflege aber nicht viel, weil die Mitarbeiter schon heute an ihre Grenzen gehen und meist nicht bis zur Rente Altenpfleger bleiben.
Länger im Beruf bleiben
Die beste Möglichkeit sei daher, die Beschäftigten länger im Beruf zu halten. „Wenn sie im Durchschnitt neun statt acht Jahre in der Pflege bleiben, wäre schon viel gewonnen“, sagt Burkhart. Den Altenheimen und Pflegediensten würden dann rechnerisch nur noch 9000 Kräfte fehlen, drei Viertel des Mangels könnten somit verhindert werden.
Für Burkhart ist nicht entscheidend, wie viel Geld in die Pflege gepumpt wird. Sondern ein pfleglicherer Umgang mit den Mitarbeitern. „Niemand geht des Geldes oder der Karriere wegen in einen Pflegeberuf. Wir müssen den Mitarbeitern die Freude an ihrem Beruf erhalten.“
Debatte um Art der Pflege
Die zuständige Landesministerin Barbara Steffens (Grüne) sieht dafür die Bundesregierung in der Pflicht. Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) solle „eine Pflegerreform auf den Weg bringen, die den Pflegebegriff neu definiert und Schluss macht mit den Minutentakten für einzelne Leistungen“, sagte Steffens dieser Zeitung. Doch bei den Reformmodellen der Regierungsfraktionen geht es fast ausschließlich um Finanzierungsfragen. Steffens will mit einer Ausbildungsumlage die Heime und ambulanten Dienste dazu zwingen mehr auszubilden. Doch dadurch wird der Beruf noch nicht attraktiver. Eine Möglichkeit sieht sie in der Zusammenlegung der Berufsbilder Kranken- und Altenpflege. „Sie erhöht die Flexibilität und Einsatzbreite der Pflegekräfte und damit die Attraktivität des Berufs.“
Das Selbsthilfenetzwerk „Pro Pflege“ kritisiert, dass es bei der anstehenden Pflegereform nur um Finanzfragen gehe. Stattdessen müsse sich die Gesellschaft einig werden, welche Art von Pflege sie künftig haben will. Nach Ansicht der Betroffenen ist eine bessere Personalausstattung unerlässlich. „Wenn es nicht gelingt, erheblich mehr Pflege- und Betreuungspersonal auf den Weg zu bringen, wird es bei den vielfach beklagten Mangelsituationen, also der Minutenpflege bleiben“, so Netzwerk-Chef Werner Schell.