Gelsenkirchen. . Der Gelsenkirchener Stadtteil Bismarck hat sich mächtig gewandelt. Vom Bauerndorf zum Zechenstandort und am Ende zu einem - fast überall - charmanten Wohnquartier. Eine Spurensuche.
Was wäre das Ruhrgebiet ohne Kohle und Stahl? Was wäre das Revier ohne Fußball und seine Helden? Was wäre die Stadt der 1000 Feuer ohne Schalke 04 und der Stadtteil Bismarck ohne Reinhard Libuda, den alle Stan nannten? Vor allem aber: Was wäre ich ohne all das, die Heimat meiner Vorfahren? Eine Spurensuche.
In Bismarck, so scheint’s, wurde der Begriff Kohlenpott erfunden. Ein Stadtteil, den es im ausgehenden 19. Jahrhundert bis auf 400 Einwohner der Braubauerschaft noch gar nicht gab und der sich erst 1900 stolz in Bismarck umbenannte, nach dem Reichsgründer. Haverkamp, ein Stadtteil im Stadtteil, wo die ganz einfachen Leute wohnten. Die Proleten, die sogar ein eigenes freches Gedicht auf ihre Siedlung reimten.
Erinnerungen an die Jugend. Finstere Fassaden, rußgeschwärzt an klitzekleinen Häuschen. Finster und fröhlich zugleich. Denn das waren die schönsten Sonntage meiner Kindheit in den 60er Jahren. Zu Besuch bei Tante und Onkel im Stammhaus Gehle, einem Gründerzeithaus, vom Urgroßvater 1908 übernommen. Wir durften zehn Pfennige in den Spielautomaten werfen, eine Limo trinken und Stangen drehen an einem Kicker, der hinten in der Kneipe auf einem Holzpodest stand.
Tickets in Ernst Kuzorras Zigarrenladen
Und schräg gegenüber wohnte er, der Fußballstar. Der Held des Bulgarien-Spiels in Mexiko 1970. Ab und zu kam er rüber, trank ein Bier an der Theke, aber ich war nie dabei. Gesprochen habe ich nur einmal mit Stan Libuda, 1977, er war längst gesperrt nach dem Bestechungsskandal und verhökerte mir Karten. Erbärmlich sah er aus, gar nicht mehr Idol, als er mir die Tickets in Ernst Kuzorras Zigarrenladen reichte.
Die Gäste bei Gehles hatten es nicht weit von ihrer Arbeit, wenn sie den schwarzen Staub aus ihren Kehlen spülen wollten. Die Zeche Consolidation 3/4/9 bildete die Herzkammer Bismarcks, bis zu 8500 Männer arbeiteten hier zur Blütezeit. 1871 abgeteuft, überstand das Bergwerk viele Krisen, Besitzer Grillo brauchte immer gute Kohle für seine Gutehoffnungshütte. Elf Kneipen soll es in den 60ern allein im Haverkamp gegeben haben. Nach der Schicht, so war es in der Gaststätte Gehle, stellten die Bergleute ihre leeren Schnapsflaschen in ein Wandschrank-Fach, und am nächsten Morgen nahmen sie sie aufgefüllt wieder mit in dunkle Tiefe, gegen den Steinstaub, wie es damals hieß.
In der Mitte wächst das Grün
Heute wächst grün das Gras im Herzen Bismarcks, Frauen mit oder ohne Kopftuch schieben Kinderwagen. Nur ein kleiner Teil der Zechengebäude steht noch, Maschinenhäuser, heute Museum und kulturelles Zentrum, Theater Consol und Musikprobencenter. Das Grobschlächtige ist dem Feinsinnigen gewichen. Wenn eine der 35 lokalen Bands probt, dann klappert das Gemäuer aber wieder wie damals, zu Zechen-Zeiten. „Das tat weh, als die Abrissbirne nach der Schließung 1997 gewütet hat“, erinnert sich Günter Knura (79), Mitglied des Initiativkreises Consolidation, im alten Maschinenhaus. Hier baumeln Stiefel, Helme und Arschleder der Bergleute wie in einer Kaue an Ketten von der Decke. Als wäre die Zeit von einer Sekunde auf die andere einfach stehengeblieben.
„Consol war 120 Jahre lang das Zentrum dieses Stadtteils, was machen wir damit?, fragte man sich Mitte der 90er“, blickt der Vorsitzende des Initiativkreises, Martin Gernhardt (63), zurück. Es ist nicht das Schönste geworden, aber sicherlich das Beste, was man daraus machen konnte auf 25 Hektar verseuchtem Boden und mit begrenztem Geld. Das kam hauptsächlich vom Land NRW, das 1994 das Programm für „Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf“ entwickelte. Bauliche, kulturelle und soziale Projekte sollten Bismarck nicht absaufen lassen wie seine Schächte.
Stadtteilzentren wie das Gesundheitshaus, die Begegnungsstätte Haverkamp, der Bau einer Evangelischen Gemeinschaftsschule, Schulhofumgestaltungen und Spielplatzverbesserungen: Das Herz, die Zeche, musste durch viele kleine Kunstherzen ersetzt werden. Identität schaffen, Integration fördern. Eine Aktion lautete 1996 „Erster internationaler Weihnachtsmarkt“ und richtete sich wohl auch an die 3500 Türken im Stadtteil mit insgesamt 16 000 Einwohnern. Kein leichtes Unterfangen, ausgerechnet ein Weihnachtsmarkt!
Viel frische Farbe
Bismarck kann sich im Jahr 2011 durchaus sehen lassen. Viel frische Farbe an den Fassaden, viel Grün, wenig Dreck am Straßenrand. Was fehlt an der Hauptschlagader, der Bismarckstraße: Der alteingesessene Metzger Janz hat dicht gemacht, das Café, die Sparkasse, die Apotheke, die Post und der Fahrradladen und, und, und. Übrig geblieben sind der Optiker, ein Schreibwarenladen und ein einziger Metzger. Aber: Das Aussterben des mittelständischen Handels ist kein Phänomen, das nur in Bismarck Probleme bereitet. Hier wie dort haben Rewe, Netto und Kaufpark die Kleinen verdrängt, und Günter Knura urteilt: „Die Fleischtheke im Kaufpark ist auch nicht schlecht.“
Das sieht Werner Thiel völlig anders. Der 64-Jährige schwört auf die Qualität beim Metzger, „der schlachtet nicht aus der Massentierhaltung“. Thiel hilft ehrenamtlich beim gemeinnützigen Schalker Bauverein, einer Genossenschaft, seit 113 Jahren in Bismarck ansässig. Er ist Bismarck-Fan, weiß um das schlechte Image des Stadtteils. Eine kleine Stadtführung hilft, wirkt wie Politur. Und wir sehen die schmucke Siedlung des Schalker Bauvereins, mit einem rundbögigen Eingangstor von 1926 wie an der Margarethenhöhe in Essen und der Schüngelberg-Siedlung in Buer. Das hat Charme.
Bitterarme Kirchengemeinde
Thiel führt uns zum Bauernhof Ernst mitten in Bismarck. Man glaubt es kaum. Misthaufen und kläffender Hofhund. Weiter geht’s zum Gesundheitshaus, wo man den „dringenden Erneuerungsbedarf“ noch besichtigen kann. Vorbei an Häusern mit sanierten Gründerzeit-Fassaden oder hübschen Erkern, hier und dort sogar etwas Jugendstil. Dann aber auch – vereinzelt – Hässliches, Gebäude am Ende des Verfallsdatums. Bröckelnder Putz, Fensterrahmen ohne Farbe. „Das gehört einem türkischen Investor, der will nur die Miete sehen“, ärgert sich Thiel.
Etwas weiter die Dreifaltigkeitskirche, aus Mangel an Priestern und Gläubigen mittlerweile mit den Nachbarn St. Josef und St. Antonius fusioniert. Schon immer war die Gemeinde bitterarm. Um die wenigen Finanzen kümmerte sich mein Großvater in den 50er Jahren, als ehrenamtlicher Rendant. Er spielte auch die Orgel. Deshalb war es auf seiner eigenen Beerdigung 1961 ganz still in der überfüllten Kirche. Niemand da, der ihn ersetzen konnte. Ein starkes Zeichen seines Pfarrers und Freundes Nikolaus Kaufhold oder einfach nur peinlich?
Werfen wir einen Blick in die Bickernstraße. Dort, wo mein Urgroßvater die Bäckerei mit zwölf Pferden für die Lieferkutschen gründete. Gegenüber das Katholische Vereinshaus, darin bewirtschaftete Opa in den 20er Jahren sogar eine Kneipe, weil die Arbeitslosigkeit bei Lehrern hoch war und er erst zwei Jahre nach der Ausbildung eine Stelle bekam. Anstreicher scheinen einen Bogen um das Gebäude zu machen, schon lange.
Wir biegen in die Haverkampstraße ein. Die kleinen Häuschen, so rußgeschwärzt in meiner Kindheit, jetzt stehen Gerüste davor, oder sie sind schon renoviert, durch Anbauten vergrößert. Ein angenehmes Sträßchen, mit Stauder-Pils-Kiosk, wie es sich im Ruhrgebiet gehört. Das alte Stammhaus Gehle der Familie, längst verkauft und mittlerweile in der Hand eines (deutschen) Investors aus Essen heißt jetzt „Bizimyr“. „Das ist auf türkisch „Unser Treff“, lächelt der Betreiber Murat Karbes. „Der Besitzer macht nichts, das Dach ist undicht und die Leitungen sind kaputt“, schimpft der 32-Jährige.
Sportfreunde Haverkamp
Kaum etwas hat sich geändert, seit 40 Jahren nicht, als ich das letzte Mal hier war. Etwas weniger los, vielleicht. Auf dem alten Holzpodest ist der Kicker drei Spielautomaten gewichen, und sonntags treffen sich die „Sportfreunde Haverkamp“ zum Frühstück.
Stan Libuda kommt schon lange nicht mehr. Er ruht seit 1996 auf dem Ostfriedhof. Drei Reihen weiter sind meine Großeltern begraben worden. Nachbarn bleiben Nachbarn.
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