Essen. . Ohne Investitionen und einen Ausbau steht das Schienennetz in NRW vor dem Kollaps. 24 Streckenabschnitte seien bereits jetzt permanent überlastet, und bis 2025 könne sich diese Zahl verdoppeln, warnt eine aktuelle Studie der Uni Münster.

Wer sich regelmäßig morgens im Ruhrgebiet oder Rheinland in überfüllte und verspätete Züge kämpft, der weiß nur zu gut, was die Verkehrswissenschaftler der Universität Münster meinen: Das Schienennetz in Nordrhein-Westfalen gerate bereits jetzt an „seine Kapazitätsgrenzen“, schreiben die Verkehrsforscher um Professor Karl-Hans Hartwig. „Fahrplan 2025“ heißt die Studie im Auftrag des Verkehrsverbandes Westfalen, in der die Experten sich das Bahnnetz im Land genauestens angeschaut haben. Mit dem Schluss: Wird jetzt nicht zügig investiert, um Engpässe zu entlasten, verschärft sich die Situation bis 2025 massiv. „Wenn der Verkehr bis 2025 weiter so wächst und nichts passiert – und danach sieht es aus“, sagt Professor Hartwig, „dann steht das System vor dem Kollaps.“

Der Ist-Zustand: Streckennetz an der Belastungsgrenze

Das Schienennetz in NRW ist das dichteste in Europa. Fast 6000 Kilometer Gesamtstrecke deckt es ab, „weit über 800“ Bahnhöfe, Haltestellen und Haltepunkte gibt es. Aber: Schon jetzt sind viele Strecken und Streckenabschnitte aus- oder gar überlastet. Die Verkehrsforscher haben das Bahnnetz im Land für ihre Studie in 668 Streckenabschnitte aufgeteilt, gezielt alle Abschnitte ausgewertet.

In drei „Korridoren“ rollt dabei besonders viel Verkehr: Auf der Rheinschiene von Emmerich nach Oberhausen, der Rhein-Ruhr-Schiene von Köln über Düsseldorf, Essen, Dortmund und Hamm nach Minden sowie auf der Nord-Süd-Strecke von Münster über Hamm nach Dortmund. 128 Züge pro Tag muss jeder Streckenabschnitt im Schnitt bewältigen.

24 Streckenabschnitte, vor allem zwischen Essen und Dortmund sowie Dortmund und Münster – sind dabei schon jetzt zu mehr als 110 Prozent ausgelastet – sprich: überlastet. Weitere 50 Streckenabschnitte „operieren bereits an der Kapazitätsgrenze“, so die Forscher. Wer Engpass-Stellen aufzählt, kommt an den großen Knotenpunkten im Land nicht vorbei: Köln, Duisburg, Düsseldorf, Dortmund.

Die Überlastung bekommen die Pendler am eigenen Leib zu spüren: „Schauen Sie sich mal die Strecke Duisburg-Düsseldorf an“, sagt Professor Hartwig. „Da sind die Züge schon jetzt morgens so voll, dass es allein deshalb Verspätungen gibt, weil die Leute so lange brauchen, um aus- und einzusteigen.“ Mehr Züge aber könne man nicht mehr auf die Strecke schicken.

Die Prognose: Der Verkehr nimmt zu, das Schienennetz bleibt gleich

„Der Schienenverkehr in NRW wird noch erheblich wachsen“, erklärt Hartwig. Der Güterverkehr, etwa von den großen Häfen in den Benelux-Staaten, werde in NRW um ca. 170 Prozent wachsen – sich also nahezu verdreifachen. Der Schienenpersonenverkehr werde Schätzungen zufolge bundesweit um etwa 25 Prozent zunehmen – im Ballungsraum Rhein-Ruhr wahrscheinlich ebenfalls deutlich stärker.

Der Verkehr nimmt also zu – am Streckennetz wird sich aber aller Voraussicht nach nicht viel ändern: „Für sämtliche Projekte, die in NRW anstünden“, erklärt Professor Hartwig, „gibt es noch keine Finanzierungsvereinbarung mit dem Bund.“ Sprich: Projekte wie das dritte Gleis für die Betuwe-Linie von Emmerich nach Oberhausen, der Ausbau der Strecke Münster-Lünen oder der Rhein-Ruhr-Express liegen auf Eis.

Die Folge: Noch mehr Engpässe

Die „Engpassanalyse“ der Münsteraner Forscher für 2025 verheißt nichts Gutes: 53 statt 24 Streckenabschnitte werden in 14 Jahren überlastet sein, prognostizieren sie. Hinzu kommen 65 Abschnitte, die voll ausgelastet sind. Und: „Die Belastungen in den Knoten Köln, Duisburg, Düsseldorf und Dortmund übersteigen weit die Leistungsfähigkeit.“ Auch die Knoten Bochum, Gelsenkirchen, Minden und Oberhausen stoßen dann an ihre Belastungsgrenze.

Lösungsvorschläge: In Engpässe statt Prestigeprojekte investieren

Was aber tun? Mit Doppelstockwaggons und längeren Zügen ist es nicht getan. Die öffentlichen Kassen sind leer, beim Bund laut der Studie für „neue Vorhaben des vordringlichen Bedarfs“ im Schienennetz allenfalls 1,1 Milliarden Euro pro Jahr eingeplant – bundesweit. Um sämtliche Engpässe in NRW zu beseiten, bräuchte man den Forschern zufolge gut 3,8 Milliarden Euro. Sie raten: „Mit dem wenigen Geld, das da ist, sollten dringend die größten Engpässe beseitigt werden.“ Also: Überholgleise und für den Güterverkehr geeignete Ausweichstrecken („Bypässe“) bauen anstatt Hochgeschwindkeits-ICE-Strecken.

Der Engpass bei Minden könnte beispielsweise durch den „relativ kostengünstigen“ Ausbau der Strecke Dortmund-Paderborn-Altenbeken in Richtung Kassel entlastet werden, die Rheinstrecke durch einen Ausbau der Verbindung von Hagen über Siegen nach Gießen.

Aber: Auch Betuwe und Rhein-Ruhr-Express (RRX) seien für die Entlastung so wichtig, dass sie „in jedem Falle möglichst zügig umgesetzt werden“ sollten. Ob und wann sie kommen, steht indes zurzeit in den Sternen. „Die Projekte sind in der Pipeline“, sagte ein Bahnsprecher auf Nachfrage von DerWesten. Er betont: „Was wir planen, würden wir auch gerne realisieren.“ Aber: Über die Finanzierung entscheidet in erster Linie der Bund. Bevor das Baurechtliche nicht geklärt ist, fließt kein Geld. Bei Betuwe und RRX laufen erste Planfeststellungsverfahren, andere stehen noch aus. Bis die Bauplanung abgeschlossen sei, könne es „noch Jahre“ dauern, so der Bahnsprecher.

Gut möglich also, dass die Verkehrswissenschaftler mit ihrer Studie Recht behalten und bis 2025 noch keines der wesentlichen Entlastungs-Vorhaben realisiert ist. „Dann“, sagt Professor Karl-Hans Hartwig, „kriegen wir ein richtiges Problem.“ (we)

Hier geht’s zur Kurzfassung der Studie „Fahrplan 2025“