Essen/Krefeld. .
Ab Dienstag muss sich Olaf H. wegen Mordes an Mirco aus Grefrath verantworten, außerdem ist er wegen sexuellen Missbrauch eines Kindes und Freiheitsberaubung angeklagt. Das Gericht ist auf der Suche nach dem Motiv.
Fast ein halbes Jahr ist vergangen, seit Mircos Leiche in einem schäbigen Gebüsch gefunden wurde, nur 50 Meter von der Kreisstraße 21 entfernt, die Wachtendonk mit Geldern verbindet. Die Natur hat die Oberhand längst wieder gewonnen an jener Stelle, an der ein mutmaßlicher Mörder den zehnjährigen Jungen aus Grefrath nackt ablegte, als wolle er ihn loswerden wie Müll. Ab Dienstag steht Olaf H. (45) in Krefeld vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Freiheitsberaubung, sexuellen Missbrauch eines Kindes und Mord vor.
Das Interesse an dem Verfahren werde „gewaltig“ sein, war sich Tim Buschfort, Pressesprecher des Landgerichts, schon im Vorfeld sicher. Auf richterliche Anordnung wurden für die Medienvertreter Platzkarten verteilt, knapp die Hälfte der 80 Plätze ist für sie reserviert. Doch auch ganz normale Bürger rufen an, fragen, ob es noch freie Plätze gibt, von denen aus man einen Blick auf den Mann werfen kann, der einfach weiterlebte wie bisher, derweil ein ganzes Land den Atem anhielt, weil ein Kind verschwunden blieb. Fünf Monate bangten die Menschen mit, waren enttäuscht, wenn wieder einmal eine Spur ins Nichts führte, hofften auf die unermüdlichen Einsätze vieler Polizisten, wagten sich kaum vorzustellen, was Mircos Eltern gerade durchmachten.
Am 3. September, einem Freitag, verlässt der Grefrather Junge Mirco S., sportlich, blond, hübsch, in dunkler Jogginghose und Poloshirt gekleidet, kurz nach neun Uhr abends mit seinem Mountainbike die Skateranlage im Örtchen Oerdt. Grefrath, Oerdt – das sind niederrheinische Städte, Dörfer, Ortsteile, wo der Satz „Hier kennt jeder jeden“ ein Allgemeinplatz ist, wo man sich sicher glaubt, auch wenn die Kinder mal ein paar Kilometer alleine mit dem Fahrrad fahren, wo man glaubt, dass sie hier besser aufgehoben sind als im Dschungel der großen Städte.
Und doch ruft Mircos Mutter, die noch drei weitere Kinder hat, den Zehnjährigen auf dem Handy an, mahnt ihn, jetzt aber schnell nach Hause zu kommen.
Eine der größten Suchaktionen, die es in Deutschland je gegeben hat
Die Straßen sind fast leer, im Fernsehen läuft Fußball - das EM-Qualifikationsspiel Belgien -Deutschland. Mirco wird an einer Bushaltestelle noch ein letztes Mal gesehen, macht sich auf den Radweg parallel zur L39, die ihn nach Hause bringen soll, in das Backsteinhaus, in dem er mit seinen Eltern und Geschwistern wohnt.
Doch er kommt nicht an.
Am nächsten Tag startet eine der größten Suchaktionen, die es je in Deutschland gegeben hat. Bundeswehrtornados fliegen mit Suchkameras. Tag für Tag durchkämmen bis zu tausend Polizisten ein immer größer werdendes Gebiet nördlich von Grefrath, wo Suchhunde Mircos Geruch ausfindig gemacht haben. Wühlen sich durchs Unterholz, durch Sumpfgebiete, trotzen Regen und Mücken, der Kälte, wenden Müllplätze von innen nach außen, befragen Menschen, die etwas gesehen, gehört haben könnten.
Allen voran Ingo Thiel, Chef der 65-köpfigen Sonderkommission, der unermüdlich Optimismus predigt, dass man ihn fängt, den Täter, der - höchstwahrscheinlich - Mirco etwas angetan haben könnte. Mit jedem der schließlich 145 Tage der Suche sinkt die Wahrscheinlichkeit, Mirco unversehrt zu finden, steigt die Gewissheit, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. Jeder Fahndungserfolg ist gleichzeitig auch Indiz, dass etwas Schreckliches passiert sein muss.
In einem Auto findet die Polizei verdächtige Faserspuren
15 Tage, 40 Zeugen
Das Verfahren vor der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Krefeld wird von Richter Herbert Luczak (59) geführt. 15 Verhandlungstage sind vorgesehen, 40 Zeugen benannt, darunter auch Mircos Mutter. Medienberichten zufolge werden die Eltern des Opfers nicht von Anfang an dabei sein, sondern sich von Rechtsanwältin Gabriele Reinartz vertreten lassen. Reinartz vertrat auch die Nebenklage im Prozess gegen den Amok-Rentner aus Schwalmtal, der drei Menschen erschoss.
Gleich zu Anfang wird das Fahrrad im Feld gefunden. Dann klaubt eine Passantin die Jogginghose vom Straßenrand, wäscht sie, denkt nach, bringt sie zur Polizei. Das Handy liegt in der Nähe des Fahrrads. Ein Zeuge will gesehen haben, wie der Fahrer eines großen, dunklen Autos ein Fahrrad ins Feld wirft. Mehrere Zeugen aus Wachtendonk wollen in der besagten Nacht einen Schrei gehört haben.
Es gibt tausende Hinweise. Die heißeste Spur ist für Ingo Thiel die des Autos.
Es ist Ende September, Mirco wäre nun elf Jahre alt. Verzweifelt appellieren die Eltern bei „Aktenzeichen XY“ an den Täter, ihnen zu sagen, wo ihr Junge ist. Vielen Zuschauern stehen Tränen in den Augen, als die Mutter Mirco als „Sonnenschein“ beschreibt, dessen Lachen alle verzaubert habe, als Zahnjährigen, der sich die Haare hochgelt, die Schule mal mehr, mal weniger gut findet, als für sie „einzigartig“.
Die Polizei kann die Suche nach dem Wagen, der am Tatabend von Zeugen gesehen wird, eingrenzen. Mehr als 15 000 VW Passat werden überprüft, auch Firmenwagen und Leasingfahrzeuge. In einem von ihnen, silberfarben, der bereits ins Ausland verkauft wurde, können verdächtige Faserspuren gefunden werden.
Ob der mutmaßliche Mörder aussagen wird, ist ungewiss
Olaf H., Telekom-Außendienstler, in dritter Ehe verheiratet, drei Kinder, Eigenheim in Schwalmtal, wenige Kilometer von Grefrath entfernt, wird am 26. Januar 2011 festgenommen. Noch am selben Tag führt er die Ermittler zu Mircos Leiche.
Anfangs sagt er, er habe Mirco, sein Zufallsopfer, getötet, weil er Stress mit einem Vorgesetzten hatte. Doch die Aussage erweist sich als falsch, Ärger mit dem Boss gab es so nicht.
Die Anklage sieht ein anderes Motiv, ein sexuelles. Am Abend des 3. September sei Olaf H. wahllos herumgefahren, habe dann in einer Traktoreinfahrt gestanden und den Jungen kommen sehen. Er habe das wehrlose Kind überwältigt, ins Auto geschoben und sei mit ihm auf ein Ackergrundstück der Gemeinde Kerken gefahren. Im Kofferraum habe er versucht, Mirco sexuell zu missbrauchen, und weil er dazu körperlich nicht in der Lage war, habe er den Jungen aus Wut und Angst vor Entdeckung mit einem Kunststoffseil erdrosselt. Danach legt er die Leiche in das Waldstück, sticht in den Hals des Kindes.
Die Polizei überprüft zurzeit das Bewegungsprofil des Angeklagten, vergleicht ungeklärte Kriminalfälle mit Kindern. Als Außendienstler war er im ganzen Land unterwegs. Auffällig war Olaf H. nie.
Ob, wie und wann er aussagen wird, ist ungewiss.