Duisburg. .
Mehr als 100 Tage nach der tödlichen Massenpanik bei der Duisburger Loveparade versuchte RTL 2 mit einer Doku die Tragödie aufzuarbeiten. Obwohl die Autoren an vielen Stellen an ihrem eigenen Anspruch scheitern, gibt ihr Film zu denken.
Die berühmten 100 Tage. Es hat sich eingebürgert, nach Ablauf dieses Zeitraums auf ein Ereignis zurückzublicken, erste Zwischenbilanzen zu ziehen und Urteile zu fällen. Über die neue Regierung, die Neuzugänge der Bundesliga-Vereine – oder über schwere Unglücke. Insofern erscheint es nur konsequent, dass sich ein Team von Filmemachern nun den Geschehnissen von Duisburg am 24. Juli 2010 angenommen hat. Das Ergebnis, die Reportage „100 Tage Loveparade – Die Tragödie von Duisburg“, war Sonntagabend auf RTL 2 zu sehen.
Exakt 105 Tage nach der Massenpanik mit 21 Toten und über 500 Verletzten auf dem Gelände des alten Güterbahnhofs, die das Freudenfest zum Albtraum werden ließ, machten sich die Autoren an die Aufarbeitung des Dramas. Sie hatten im Vorfeld angekündigt, „eine Schneise durch den Dschungel der zahlreichen Informationen“ zu schlagen und „überraschende Antworten“ zu liefern.
Sensibles Thema
Diese zugleich löbliche wie ambitionierte Zielsetzung gab Anlass zu Skepsis: Lässt sich ein derart facettenreiches und vor allem sensibles Thema mit den Mitteln des Mediums Fernsehen überhaupt angemessen umsetzen? Zumal unter der Flagge eines Senders wie RTL 2, der mit umstrittenen Formaten wie „Big Brother“ oder „Tatort Internet“ bislang eher nicht in den Verdacht geriet, eine Plattform für seriösen, tief schürfenden Journalismus zu sein? Am Ende der knapp dreistündigen Reportage waren manche Zweifel ausgeräumt, manche nicht.
Den Autoren lässt sich gewiss nicht das Bemühen absprechen, ein möglichst umfassendes Bild der Ereignisse von Duisburg und ihrer Folgen zeichnen zu wollen. Sie ließen rund 40 Betroffene, Beteiligte oder Experten zu Wort kommen: Besucher und Angehörige, Security-Personal und Notärzte, DJs und Eventmanager, Anwälte und Journalisten. Darunter war auch Besucher Manfred, der nach dem Unglück erschütternde Videos unter dem Pseudonym „Pizzamanne“ auf YouTube hochgeladen hatte, die das Gedränge an der Treppe sowie die Verzweiflung und Todesangst der Menschen zeigte. Dabei hatte er Ruhe bewahrt und unter anderem einem Mädchen die Hand gehalten, die unter den Menschenmassen fast verschwunden war. Wenige Tage nach dem Unglück hatte DerWesten bereits ein exklusives Interview mit Manfred geführt, der im Internet wegen seines Mutes und der Besonnenheit als Held gefeiert wurde.
Aus ihren Schilderungen und Wertungen schälten sich schnell die zentralen Themen der Tragödie heraus. Das für eine Veranstaltung dieser Größenordnung ungeeignete Gelände. Das Sicherheitskonzept, das den Zu- und Abgang über eine einzige Rampe vorsah. Der Druck seitens des Veranstalters wie der (Landes-)Politik, die Loveparade unbedingt stattfinden zu lassen. Und natürlich die Frage, wer die Verantwortung für das Desaster trägt.
Umvorstellbare Dramatik
Auch ließ die Machart der Reportage darauf schließen, dass sich die Autoren der emotionalen Brisanz bewusst waren. Befürchtungen, sie würden es sich einfach machen und zum Zwecke der Effekthascherei auf reißerische Art und Weise das Leid der Betroffenen in den Vordergrund stellen, erwiesen sich weitgehend als unbegründet. Einige der – laut Senderangaben bis dato unveröffentlichten – Videoaufnahmen aus dem Epizentrum des Unglücks - vermittelten vielmehr einen Eindruck von der unvorstellbaren Dramatik, mitten im Menschenknäuel. Hierbei handelte es sich hauptsächlich um die Videos von „Pizzamanne“, die über YouTube mehrere hunderttausend Mal angeklickt und wegen ihrer Intensität zum Teil aber mit einer Alterssperre ab 18 Jahren beschränkt wurden. In einigen Einstellungen waren zwar Verletzte zu sehen, Tote jedoch wahrscheinlich nicht. Allerdings hat der Sender von einigen offenbar Schwerverletzten die Gesichter nicht gepixelt.
Was die Filmemacher präsentierten, war zweifellos eine verständliche und in den Kernpunkten vollständige Aufbereitung der Tragödie. Die versprochenen „überraschenden Antworten“ blieben allerdings aus. Die Autoren haben im Wesentlichen die Erkenntnisse aus den zurückliegenden drei Monaten zusammengetragen und kratzten dabei an vielen Stellen nur an der Oberfläche. Der oft vernommene Zusatz eines Augenzeugen oder Experten, ein geäußerter Verdacht oder Zusammenhang sei nicht mehr als eine Mutmaßung, war bezeichnend. Da die Reportage keine abschließenden Antworten geben konnte, blieb ihr nur die Spekulation. Aber unbestritten wäre es auch zu viel verlangt gewesen, von einer TV-Dokumentation eine Antwort auf die Schuldfrage zu erwarten – zu einem Zeitpunkt, da die juristische Aufarbeitung des Desasters noch in der Anfangsphase steckt.
Inhaltlicher Bruch
Manche Passagen des Films legten geradezu den Schluss nahe, dass seine Macher Probleme mit dem richtigen Zugriff hatten. So ließen sie etwa der Schilderung des Unglücks sowie der Ursachenforschung einen Abschnitt folgen, in dem prominente DJs wie der Loveparade-Gründer Matthias „Dr. Motte“ Roeingh beinahe wehmütig auf die Entstehung der Loveparade und ihren anfänglichen Erfolg in Berlin zurückblickten. Tenor: Es war von Anfang an falsch, die Loveparade aus Berlin abzuziehen und ins Ruhrgebiet zu verfrachten. Die Sequenz hatte nur marginal mit den Ereignissen von Duisburg zu tun, bewirkte dafür aber einen irritierenden inhaltlichen Bruch.
Je länger die Bilder des überfüllten Tunnels und der verstopften Rampe über den Bildschirm flackerten, desto offensichtlicher wurde es, dass selbst drei Stunden nicht ausreichen, um Vorgeschichte, Verlauf und Folgen eines derartigen Ereignisses angemessen wiederzugeben. Viele wichtige Aspekte – der verweigerte Rücktritt von Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland, die widersprüchlichen Aussagen des Panikforschers und Gutachters Michael Schreckenberg oder der in seiner Seriosität umstrittene Zwischenbericht der Stadt Duisburg – wurden allenfalls am Rande gestreift. Der Film beschrieb zutreffend die Mauer des Schweigens, die die Entscheidungsträger an der Spitze errichtet haben, konnte sie aber nicht durchbrechen.
Ungeklärte Schuldfrage
Auch bleibt anzumerken, dass sich unter der Masse der präsentierten Experten zu wenig Klasse befand. Die meisten von ihnen waren zwar dabei, aber nicht an entscheidender Stelle mittendrin. So wie der im Film nur beiläufig erwähnte Crowd-Manager Carsten Walter, der mit seinen Anweisungen aus einem Container heraus die Massen steuern sollte – und das Versagen der Kommunikation hautnah erlebte. Walter hat sich bereits öffentlich geäußert, hier kam er – aus welchen Gründen auch immer – nicht zu Wort.
Doch die Autoren machten auch vieles richtig. Ihr vielleicht größter Verdienst besteht darin, dem Verdrängen der Katastrophe entgegenzuwirken. Sie zeigten Betroffene, die noch immer von weit her nach Duisburg kommen, um zu trauern oder nach Antworten zu suchen. Sie sprachen mit Besuchern und Helfern, die noch immer traumatisiert sind oder es jetzt erst werden. Und nicht zuletzt verwiesen sie mittels ihrer Interviewpartner auf die noch immer ungeklärte Schuldfrage. Stellvertretend mahnte etwa Festivalorganisator Marek Lieberberg („Rock am Ring“): „Die ganze Sache scheint im Sande zu verlaufen. Das halte ich gerade angesichts der Toten für skandalös.“