Duisburg. .

In erschütternden Videos zeigt ein Student, was bei der Loveparade-Tragödie auf der Rampe passiert ist. Er selbst ist in dem Chaos ruhig geblieben und versuchte anderen zu helfen. Im DerWesten-Gespräch beschreibt er das Unglück aus seiner Sicht.

Fieberhaft arbeiten derzeit die Behörden an der Rekonstruktion der Ereignisse, die zur Tragödie mit 21 Toten und Hunderten Verletzten bei der Loveparade geführt haben. Die ersten Äußerungen von Veranstalter Lopavent und Stadt Duisburg haben bei Augenzeugen Kopfschütteln und Zorn verursacht: Es habe keine Massenpanik geben, die Opfer hätten sich nicht an Regeln gehalten. Ein Student aus Süddeutschland steckte auf der Rampe mitten in der Menschenmasse – ganz in der Nähe der Treppe, als die Tragödie ihren Lauf nahm.

Der Student, der aus persönlichen Gründen anonym bleiben möchte, hat nicht nur vielen Menschen Mut zugesprochen, die vor Angst weinten und schrien. Er hat die Ereignisse auch mit Videoaufnahmen festgehalten. „Als ich von den ersten Rekonstruktionen des Unglücks hörte, habe ich mich dazu entschlossen, meine Videoaufnahmen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen“, berichtet er im DerWesten-Gespräch.

35-minütige Chronologie

Auf der Video-Plattform YouTube hat er unter seinem Account „pizzamanne“ eine rund 35-minütige Chronologie der Ereignisse hochgeladen. Was man hört und sieht, zeigt die Tragödie in einer derart intensiven Form, dass YouTube einen Teil der Videos nur für angemeldete Nutzer ab 18 Jahren zugänglich macht.

Mehrere Nutzer lassen in Kommentaren unter den Videos ihren Gefühlen bereits freien Lauf: „Sitze fassungslos hier & weine … es ist so unvorstellbar traurig. Das ist so unglaublich aussagekräftiges Video-Material, es ist die Stimme für die, die nicht mehr sprechen können“, schreibt „mabea2010“. „Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, als ich deinen Film sah – sollte es zu einer Gerichtsverhandlung kommen, sollten alle Angeklagten diesen Film sehen“, fordert „enroc23“.

Böse Vorahnung

Im DerWesten-Gespräch schildert der Student mit eigenen Worten, wie er die Katastrophe erlebte. Die Beschreibung folgt im kompletten Wortlaut: „Bereits auf dem Weg zum Party-Gelände störten mich die zahlreichen Zäune. Für mich schuf das ein völlig andere Atmosphäre als bei früheren Loveparades. Als ich eine Gruppe von Polizisten nach dem Weg fragte, machten einer einen recht uninformierten Eindruck auf mich. Der Strom der Menschenmasse vom Bahnhof wurde allerdings automatisch in eine Richtung geleitet – schon zu dem Zeitpunkt herrschte großes Gedränge. Einige Besucher beklagten sich bereits über die schlechte Organisation.

Der Gang durch die Schleusen funktionierte recht unproblematisch. Im Tunnel waren die meisten Menschen noch fröhlich, haben Party gemacht und gesungen. An der Rampe staute es sich dann extrem. Irgendwie hatte ich zu dem Zeitpunkt schon eine böse Vorahnung, dass es Probleme geben und die Situation ausarten könnte und habe mich deshalb dazu entschlossen, ausführliche Videoaufnahmen zu machen. Einige Leute fingen an am Rand der Mauer eine Treppe zu nutzen, was von den anwesenden Polizisten auch toleriert wurde.

Auf einmal drückte die Menge in Richtung der Treppe – ob alle die Intention hatten, da hoch zu laufen, oder ob es an den Menschenmassen lag, die von hinten gedrückt haben, kann ich nicht sagen. Da ich eine kräftige Statur habe, kam ich damit noch ganz gut klar. Allerdings gerieten einige Leute um mich herum in Panik oder beginnen zu weinen oder zu schreien – das war für mich der Punkt, an dem ich merkte, dass es hier gefährlich wird und Menschen zu Schaden kommen könnten. Die Polizisten fingen auch an, nach Kräften Menschen aus der Menge auf die Treppe hochzuziehen.

15 Minuten die Hand gehalten

Ich konnte mich nicht mehr bewegen und versuchte einigen gut zuzureden. Ein Mädchen, das schon von einigen Körpern zu Boden gedrückt wurde, hat mich um Hilfe angefleht, doch ich konnte sie nicht herausziehen – dazu hat mir einfach die Kraft gefehlt. Stattdessen habe ich 15 Minuten lang ihre Hand gehalten und immer wieder auf sie eingeredet, dass sie durchhalten soll. Irgendwann löste sich das Gedränge auf, und ich konnte ihr aufhelfen.

Dann entdeckte ich zwei Menschen neben mir, die ich versuchte wieder zu beleben - auch wenn ich schon am starren Blick erkannte, dass es wohl zu spät war. Ich habe einen Mann verzweifelt angeschrien, er solle aufwachen - ich konnte nicht akzeptieren, dass er tot war. Ein Sanitäter und ein Polizist lösten mich dann ab. Schließlich hatte ich auch keine Kraft mehr.

Ich bin dann irgendwann auf das Loveparade-Gelände gelaufen und habe all die feiernden Menschen gesehen. Unter ihnen bin ich umher gelaufen, konnte nichts mit mir anfangen und haben mich schließlich irgendwo hingesetzt und geweint. Mir hat das alles so leid getan – ich war gefühlsmäßig tot. Ich habe noch großes Glück gehabt und nur etwas Schmerzen im Knie. Es wird wohl noch lange dauern, bis das alles psychisch verarbeitet habe.“

Die Schreie und Gesichter gehen nicht mehr aus dem Kopf

Über seinen You-Tube-Account versucht „pizzamanne“ nun, mit dem Mädchen, dessen Hand er gehalten hat, Kontakt aufzunehmen. Zudem wird er wohl das Videomaterial der Polizei und Staatsanwaltschaft zur Rekonstruktion der Tragödie zur Verfügung stellen. „Ich habe mir gestern Abend alle 4 Videos angesehen und konnte dann die halbe Nacht nicht einschlafen, weil mir die Schreie und Gesichter nicht mehr aus den Kopf gehen. Ich habe bis jetzt kein Video gesehen was die Situation an der Treppe so gut zeigt wie in deinem Video“, schreibt DanSielaff in einem Kommentar auf YouTube. Danke. Und Nutzer Skreee99 schreibt: „Einfach Danke, dass du so ruhig warst, dass du beruhigt und geholfen hast. Ich bin tief beeindruckt und wünsche dir das allerbeste.“