Brüssel. . Durchbruch vor der Morgendämmerung. Am Donnerstag einigten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs auf eine Gesamtlösung, um die seit anderthalb Jahren grassierenden Schuldenturbulenzen zu beseitigen. Sie mussten lange mit den Banken um einen kräftigen Schuldenerlass für das pleitebedrohte Griechenland ringen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre europäischen Amtskollegen verkündeten gegen vier Uhr morgens, wie sie die Schuldenkrise eindämmen wollen. Sie präsentierten einen neuen Rettungsplan für Griechenland und Pläne zur Stärkung von Europas Bankenbranche. Sie beschlossen zudem, die Schlagkraft des Euro-Rettungsfonds zu erhöhen. Das alles soll die aufgescheuchten Finanzmärkte beruhigen.

In den nächsten Wochen feilen Experten der Staaten und der EU-Kommission an den Details für die als Befreiungsschlag gedachte Gesamtlösung. „Das ist ein Marathon, kein Sprint“, sagte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Die Staaten bekämpfen die Schuldenkrise, die in Griechenland begann, bereits seit Monaten. Großen Erfolg hatten sie bisher aber nicht.

Die Europäer trotzten zudem den Schuldenstaaten Italien und Spanien weitere Spar- sowie Reform-Anstrengungen ab. Das soll verhindern, dass die Schuldenkrise den ganzen Euro-Währungsraum ergreift.

Höherer Schuldenerlass als bisher geplant

Merkel und ihre europäischen Amtskollegen rangen den Banken nach zähen Verhandlungen Zugeständnisse ab. Die Banken, die Griechenland Geld geliehen haben, erklärten sich bereit zu einem höheren Schuldenerlass als bisher geplant. Die Staaten hätten der Bankbranche „nur ein einziges Angebot“ gemacht, sagte Kanzlerin Merkel. „Wir sagten, das ist unser letztes Wort.“

Die Banken stimmten zu, dem taumelnden Griechenland freiwillig die Hälfte der Schulden erlassen – 100 Milliarden Euro. „Die Beteiligung der privaten Gläubiger spielt eine wichtige Rolle, damit Griechenland unter seiner Schuldenlast nicht mehr zusammenbricht“, steht in der Abschluss-Erklärung des Gipfeltreffens.

Die Banken tauschen die griechischen Schuldtitel (Staatsanleihen) im Januar in neue Anleihen um. Dabei nehmen die Banken einen deutlichen Wertverlust gegenüber dem ursprünglichen Ausgabewert der Anleihen in Kauf.

Im Gegenzug sichern die europäischen Staaten diese neuen griechischen Schuldverschreibungen mit insgesamt 30 Milliarden Euro gegen mögliche Zahlungsausfälle ab – über den Euro-Rettungsfonds. Griechenland verspricht, 15 Milliarden Euro in den Rettungsfonds einzuspeisen. Das Geld wollen die Griechen einsammeln, indem sie wie geplant Staatsvermögen verkaufen. Die Details für den Schuldenerlass werden nun ausgearbeitet.

Das zweite europäische Notkredite-Paket soll bis Dezember stehen

Griechenland bekäme mit dem Schuldenerlass Luft. Das Land trägt derzeit schwer an den Zinszahlungen für seine Kredite.

Der Schuldenerlass liefert zudem die Grundlage für das zweite europäische Notkredite-Paket. Es soll bis Dezember stehen und 100 Milliarden Euro schwer sein. Hinzu kämen die 30 Milliarden Euro, mit denen der Euro-Rettungsfonds die neuen griechischen Staatsanleihen absichern soll. Von diesen insgesamt 130 Milliarden Euro müssten die 15 Milliarden Euro Privatisierungserlöse abgezogen werden. Unter dem Strich hätte das zweite Hilfspaket für Griechenland damit ein Volumen von 115 Milliarden Euro.

Griechenland soll dank des zweiten Notkredite-Pakets seine Zahlungsverpflichtungen bis 2020 erfüllen können. Bis dahin, so schätzen die Europäer, würde kein privater Investor dem Schuldenstaat Geld zu tragbaren Bedingungen leihen.

Griechenland erhält die neue europäische Hilfe nur, wenn es weiter kräftig spart und seine Wirtschaft reformiert. Künftig wollen die Vertreter der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds IWF die griechische Regierung dauerhaft bei ihren Spar- und Reform-Anstrengungen kontrollieren. „Es wird ein verstärktes Überwachungsregime geben“, sagte Kanzlerin Merkel. Bisher reisen Vertreter der „Troika“ alle drei Monate nach Athen, um zu überprüfen, ob Griechenland alle Auflagen im Gegenzug für Notkredite erfüllt.

Griechenlands Schuldenstand soll bis 2020 nach dem Willen der Europäer auf 120 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung sinken. Derzeit hat Griechenland Schulden im Volumen von etwa 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Großbanken sollen Risikopuffer bis Juni aufpolstern

Europas Bankenbranche muss sich für so einen massiven Erlass griechischer Schulden rüsten. Großbanken sollen ihre Risikopuffer bis Juni aufpolstern. Europaweit sind dazu laut der Europäischen Bankenaufsicht EBA 106 Milliarden Euro nötig.

Deutsche Banken müssen ihre Kapitaldecke mit 5,2 Milliarden Euro stärken. Deutlich mehr Geld brauchen Banken in Griechenland (30 Milliarden Euro), Spanien (26 Mrd.), Italien (14,8 Mrd.) und Frankreich (8,8 Mrd.).

Die Staats- und Regierungschefs beschlossen, dass die betroffenen Banken ihre Kernkapitalquote auf neun Prozent erhöhen sollen – tätigt eine Bank also Geschäfte im Wert von 100 Euro, indem sie zum Beispiel Kredite vergibt, muss sie dafür neun Euro als Sicherheit beiseite legen.

Eine Bank muss zunächst aus eigener Kraft versuchen, an frisches Geld zu kommen, um ihren Risikopuffer zu erhöhen. Schafft sie das nicht, soll der Staat einspringen. Als letzter Ausweg kann sich die Bank an den Euro-Rettungsfonds wenden. Dann muss sie aber strenge Auflagen erfüllen, falls Geld aus dieser Quelle erhält.

So funktioniert das "Hebeln"

Der Euro-Rettungsfonds erhält mehr Schlagkraft. Dieses „Hebeln“ (EU-Jargon) soll über zwei Wege möglich sein. Bisher hat der Fonds eine Ausleihkapazität von 440 Milliarden Euro. Er soll künftig bis zu etwa 1000 Milliarden Euro für klamme Euro-Staaten mobilisieren können.

So geht das „Hebeln“: Zum einen soll der Rettungsfonds als eine Art Versicherer einen Teil des Zahlungsausfall-Risikos tragen, wenn private Investoren europäischen Problemländern Geld leihen.

Außerdem sollen bei dem Fonds Sondertöpfe eingerichtet werden, in die zum Beispiel China oder Staatsfonds aus der ganzen Welt Geld stecken können. Mit diesem Geld will der Rettungsfonds dann angeschlagenen europäischen Staaten Geld borgen – und auch hier einen Teil des Ausfallrisikos schultern.

Die so gewonnene Schlagkraft soll Finanzmarkt-Akteure wie Banken, Versicherer oder Investmentfonds davon überzeugen, dass der Euro-Währungsraum ein sicherer Anlageort ist – auch wenn Staaten finanzielle Probleme haben.

Die Beschlüsse zur Euro-Rettung

Die Beschlüsse des Brüsseler Gipfels zur Euro-Rettung

SCHULDENSCHNITT FÜR GRIECHENLAND

Die Banken erlassen Griechenland 50 Prozent seiner Schulden - "freiwillig", wie in einer Erklärung betont wird. Das entspricht rund 100 Milliarden Euro.

Dadurch soll der Schuldenstand Athens bis zum Jahr 2020 auf 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gedrückt werden, damit Griechenland die Aussicht bekommt, eines Tages wieder ohne ausländische Finanzhilfen auszukommen.

Heute liegt der Wert bei 160 Prozent - zu viel für das Land. Die privaten Gläubiger sollen ihre Anleihen nun Anfang des Jahres umtauschen. Der Euro-Rettungsfonds (EFSF) sichert diesen Vorgang mit 30 Milliarden Euro ab.

ZWEITES PROGRAMM FÜR GRIECHENLAND

Im Juli war ein zweites Hilfsprogramm für Athen vereinbart worden. Da sich die Finanz- und Wirtschaftslage des Landes aber rapide verschlechterte, war das Programm schon nach dem Sommer wieder hinfällig.

Auf Grundlage des Schuldenschnitts ist nun ein neues Paket gepackt worden. Bis zum Jahr 2014 soll Athen weitere 100 Milliarden geliehen bekommen. Darin sind Hilfen für griechische Banken eingerechnet, die durch den Schuldenschnitt vermutlich in Schwierigkeiten geraten.

Die Sparanstrengungen Athens sollen künftig dauerhaft überwacht werden, wie Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte.

RISIKOPUFFER FÜR BANKEN

Ein Schuldenschnitt zugunsten Griechenlands und weitere Turbulenzen können Befürchtungen zufolge die europäischen Banken in Probleme stürzen.

Deswegen sollen die Finanzhäuser mehr Geld für Notsituationen zurücklegen. Sie müssen nun bis Mitte des nächsten Jahres ihre Risikopuffer, die Kernkapitalquote, auf neun Prozent erhöhen.

Insgesamt sind dafür wohl 106 Milliarden Euro nötig. Die deutschen Banken müssen sich knapp 5,2 Milliarden Euro beschaffen, das gilt als machbar.

Das kann durch Finanzspritzen der Eigentümer oder durch Investitionen des Privatsektors geschehen. Gelingt dies nicht, sollen die nationalen Regierungen und als letzte Möglichkeit der EFSF mit einspringen.

MEHR SCHLAGKRAFT FÜR DEN EURO-RETTUNGSFONDS (EFSF)

Der Euro-Rettungsfonds ist das wichtigste Werkzeug der Eurozone gegen eine Ausbreitung des Schuldenproblems.

Daher soll die "Feuerkraft" des Fonds erhöht werden - allerdings ohne weiteres Geld bereitzustellen.

Die Hoffnung ist, dass durch einen "Hebel" die noch nicht verplanten rund 250 Milliarden Euro eine Wirkung nach Angaben Merkels wie rund eine Billion Euro erzielen.

Dabei geht es um den Kauf von Staatsanleihen in Bedrängnis geratener Euro-Länder. Investoren sollen geködert werden mit dem Angebot, dass der Fonds im Falle einer Pleite beispielsweise 25 Prozent ihrer Verluste übernimmt.

Nach dieser Rechnung würde der Fonds etwa nicht für 100 Euro selber Anleihen kaufen, sondern vier Investoren dazu bringen, jeweils eine Anleihe für 100 Euro zu kaufen.

AUFGABEN FÜR ITALIEN

Italien war zuletzt unter Druck geraten, weil an dem Sparwillen der Regierung in Rom gezweifelt wurde.

Regierungschef Silvio Berlusconi legte auf dem Gipfel Maßnahmen vor, wie der Schuldenberg von 1,9 Billionen Euro abgebaut werden soll.

Bis Mitte 2012 soll eine Schuldenbremse in der Verfassung verankert werden. Bis 2013 will Berlusconi den Haushalt ausgleichen und so den Schuldenstand bis 2014 von 120 Prozent des BIP auf 113 Prozent senken.

Die Regierung will zudem das Renteneintrittsalter bis zum Jahr 2026 auf 67 Jahre anheben und die Wettbewerbsfähigkeit seiner Wirtschaft stärken, indem etwa in manchen Berufen Mindestlöhne abgeschafft werden.

1/21