Röszke/Ungarn. Es erinnert an eine Fütterung im Zoo: Wie Tiere zwängt die Polizei hunderte Menschen in Absperrungen und wirft ihnen wahllos Lebensmittel zu.

Die Lage im ungarischen Flüchtlingslager Röszke nahe der Grenze zu Serbien spitzt sich weiter zu. Tagelang sitzen Flüchtlinge in der völlig überfüllten und verdreckten Einrichtung fest, weil die Behörden die Registrierung nicht vernünftig abwickeln. Entwicklungshelferin Michaela Spritzendorfer-Ehrenhauser, Ehefrau des österreichischen Grünen-Politikers Alexander Spritzendorfer, konnte sich Zutritt verschaffen. Sie veröffentlichte erschütternde Aufnahmen aus dem Lager: Verzweifelte Menschenmassen drängen sich in Absperrungen, die Polizei wirft wahllos in Plastik verpackte Nahrungsmittel in die Menge. Es kommt zu Tumulten, Frauen heben ihre Kinder über die Zäune in der Hoffnung, Wasser und Nahrung zu bekommen.

Ticker - Deutsche sind mit Flüchtlingspolitik einverstanden

Ungarn hat ein hartes Durchgreifen gegen Flüchtlinge angekündigt. Falls die Regierung den Krisenfall ausrufe, werde jeder illegale Einwanderer "sofort verhaftet", sagte Ministerpräsident Viktor Orban am Freitag in Budapest. "Wir werden sie nicht mehr höflich begleiten wie bisher."

Am kommenden Dienstag will Ungarns Kabinett entscheiden, ob der Krisenfall erklärt wird. Das würde unter anderem bedeuten, dass das Militär die Grenzschützer unterstützen darf. Separat soll das Parlament am 21. September entscheiden, ob die Armee auch dann zum Grenzschutz herangezogen werden darf, wenn kein Krisenfall oder Notstand ausgerufen wurde. Mittlerweile wurden 3800 ungarische Soldaten zu den Bauarbeiten am Zaun an der serbischen Grenze abkommandiert.

Kritik an Versorgung der Flüchtlinge in Ungarn

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Menschenrechtler beklagten, dass der ungarische Staat die Flüchtlinge unzureichend versorge. Bisher habe nur das Engagement von Freiwilligen eine Katastrophe im Flüchtlingslager Röszke an der serbischen Grenze verhindert, sagte der Koordinator des Flüchtlingsprogramms beim ungarischen Helsinki-Komitee, Gabor Gyulai.

Wenn vom kommendem Dienstag an die Überquerung des Zauns an der Grenze zu Serbien strafbar werde, sei zudem mit der Inhaftierung und schnellen Abschiebung von zahllosen Flüchtlingen zu rechnen. Damit entstehe eine schwierige Lage mit unabsehbaren Folgen für Serbien.

Ungarn kritisiert die EU

Ungarns Regierungschef Orban kritisierte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der eine Quotenregelung zur Verteilung von Flüchtlingen in der EU vorgeschlagen hat. Juncker sei dabei, "den europäischen Konsens zu zerstampfen", sagte der nationalkonservative Regierungschef, ohne direkt auf dessen Vorschläge einzugehen. Es gehe nicht an, dass die EU-Kommission Regelungen schaffe, ohne vorher die nationalen Regierungschefs zu konsultieren.

Din Deutschland sieht sich Landrat Erich Pipa von der SPD wegen seines Engagements für Flüchtlinge Morddrohungen ausgesetzt. Sie gehen von Rechtsextremisten der "Initiative Heimatschutz Kinzigtal" aus, wie der Verwaltungschef des Main-Kinzig-Kreises bei einer Pressekonferenz sagte. Am Freitag machte Pipa den Vorgang in Gelnhausen öffentlich. "Nichts tun, würde Schweigen bedeuten. Ich werde mich nicht einschüchtern lassen", sagte der 67-Jährige kämpferisch.

Mehrheit der Deutschen heißt Flüchtlingspolitik gut

Eine deutliche Mehrheit der deutschen Bürger ist derweil laut einer Umfrage mit der deutschen Flüchtlingspolitik einverstanden, rechnet aber nicht mit der Hilfe anderer EU-Staaten. So bezeichneten 66 Prozent der Befragten im ZDF-"Politbarometer" die Entscheidung, Zehntausende Flüchtlinge aus Ungarn einreisen zu lassen, als richtig. 29 Prozent sehen das nicht so, teilte der Sender am Freitag mit.

Alles in allem finden 57 Prozent aller Befragten den Umfang des Engagements gerade richtig. 21 Prozent fordern mehr Anstrengungen. 17 Prozent meinen, dass zu viel für Flüchtlinge und Asylbewerber in Deutschland getan wird.

Die Ereignisse des Tages in der Chronik:

(we/dpa/Reuters)

„Die Menschen, die es in die Halle geschafft haben sind bereits 'privilegiert' im Vergleich zu jenen, die in Zelten oder im Freien übernachten müssen“, schreibt Spritzendorfer-Ehrenhauser auf dem Youtube-Account ihres Mannes. Zusammen mit dem Journalisten Klaus Kufner war sie in das seit etwa drei Jahren existierende Lager gereist, um Hilfsgüter zu liefern.

90 Prozent der Verpflegung kommt von Privatleuten

Der BBC berichtete Ehrenhauser-Spritzendorfer: "Die Polizisten haben Sandwiches in Plastiktüten in die Menge geworfen. Wer in der Lage war, ein solches Paket zu fangen, der hatte Glück. Einige brachten die Sandwiches den Frauen und Kindern, die am Rand warteten. Andere aßen sie direkt auf. Wieder andere versuchten, auf den Zaun zu klettern, um eher in der Lage zu sein, etwas zu fangen." Sie forderte: "Wir als Europa lassen die Leute da in Lagern wie Tiere leben. Es ist die Verantwortung der europäischen Politiker, die Grenzen jetzt zu öffnen!"

Hilfsorganisationen aus dem Ausland und Freiwillige übernehmen in Röszke die Versorgung von Flüchtlingen – der Staat kann oder will das offenbar nicht in zumutbarer Weise organisieren. Weil ungarische Hilfsorganisationen auf Gelder vom Staat angewiesen sind, hielten sich diese laut Medienberichten zurück. Rund 90 Prozent der Lebensmittel- und Kleiderspenden für Flüchtlinge kommen von einfachen Privatleuten, schätzt der freiwillige Flüchtlingshelfer András Léderer. Er fahre Flüchtlinge von Röszke an der serbisch-ungarischen Grenze nach Hegyeshalom an der Grenze zu Österreich, auch wenn dies von den Behörden als illegaler Menschenschmuggel betrachtet werde.

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Unabsehbare Folgen für Serbien

"Die Zustände sind entsetzlich", kritisiert Nothilfe-Direktor Peter Bouckaert von der Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch". Auch „Ärzte ohne Grenzen“ hält die die Zustände in dem Lager für untragbar: Die Behörden würden in keiner Weise für Koordination sorgen.

Unterdessen arbeiten die ungarischen Behörden wohl daran, das völlig überfüllte Lager zu leeren und die Bewohner zu registrieren. Wie der Journalist Balazs Csekö auf seinem Twitter-Account mitteilt, sei ein großes Polizeiaufgebot derzeit damit beschäftigt, die Flüchtlinge abzutransportieren - wiederum unter fragwürdigen Bedingungen. Und: Die Überquerung des Zauns an der ungarisch-serbischen Grenze soll ab Dienstag strafbar sein. Márta Pardavi, Leiterin des Helsinki-Komitees in Ungarn, einer Menschenrechtsorganisation, fürchtet: Zahllose Flüchtlinge werden verhaftet und schnell abgeschoben. Die Folgen für das Nachbarland Serbien seien nicht abzusehen. (mit dpa)

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