Essen/Duisburg. Thyssenkrupp im Konfliktmodus: Aufsichtsratschef Russwurm rückt in den Fokus. „Es geht ans Eingemachte“, sagt Konzernkenner Tüngler.
Seine öffentlichen Auftritte für Thyssenkrupp sind selten, und doch spielt BDI-Präsident Siegfried Russwurm als Aufsichtsratschef eine Schlüsselrolle im Streit des Managements mit der IG Metall. Bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate hat Russwurm nun im wichtigsten Kontrollgremium des Konzerns die Arbeitnehmervertreter überstimmt. Ende vergangenen Jahres setzte der langjährige Siemens-Manager eine Vorstandserweiterung bei Thyssenkrupp mit seiner sogenannten Doppelstimme durch. Jetzt besiegelte Russwurm gegen den Willen der Mitarbeitervertreter den Einstieg des tschechischen Geschäftsmanns Daniel Kretinsky in der Stahlsparte des Essener Industriekonzerns.
Dabei beschreiben Menschen, die Russwurm gut und lange kennen, als eher ausgleichenden Akteur in Deutschlands Industrie. Als BDI-Präsident ist er einer der Spitzenrepräsentanten der heimischen Wirtschaft, der regelmäßig in Kontakt zu Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) steht. Was also bringt Russwurm dazu, in seiner Thyssenkrupp-Funktion auf Konfrontationskurs zur einflussreichen Gewerkschaft IG Metall zu gehen?
Ein Insider verweist auf den Ernst der Lage bei Thyssenkrupp. Russwurm sehe dringenden Handlungsbedarf und wolle nicht durch Nichtstun zum Totengräber eines der traditionsreichsten Unternehmen des Landes werden. Daher treffe er auch unbequeme Entscheidungen gegen den Widerstand der Arbeitnehmerseite.
Einflussreiche Gewerkschafter wie der Zweite Vorsitzende der IG Metall, Jürgen Kerner, der auch Vize-Aufsichtsratschef von Thyssenkrupp ist, hatten öffentlich dafür geworben, eine Entscheidung zum Kretinsky-Einstieg zu verschieben. Dem Vernehmen nach hatte die Thyssenkrupp-Führungsriege allerdings nicht den Eindruck, sie könne die IG Metall noch von einer ablehnenden Haltung zum Stahl-Deal im Aufsichtsrat abbringen. Insofern hätte Russwurm keine Vorteile in einer Vertagung der Abstimmung zum Geschäft mit Kretinsky sehen können.
Eine Verschiebung der Abstimmung über die Partnerschaft mit dem tschechischen Geschäftsmann hätte zudem wie eine Niederlage für Thyssenkrupp-Vorstandschef Miguel López gewirkt, der ohnehin stark unter Druck steht. Auf einer Kundgebung kurz vor der Aufsichtsratssitzung in der Essener Konzernzentrale musste sich der Manager Buhrufe und Rücktrittsforderungen anhören. Mit seiner Doppelstimme stärkte Russwurm dem umstrittenen Vorstandschef den Rücken. Der BDI-Chef rückt damit aber auch zunehmend selbst ins Visier der IG Metall.
Schon nach seinem Votum für die Vorstandserweiterung bei Thyssenkrupp musste sich Russwurm Ende vergangenen Jahres harsche Kritik der Gewerkschaft anhören. Von einer „Zäsur“ und einem „Kulturbruch“ im Konzern war bei der IG Metall die Rede. Zum ersten Mal in der Geschichte des Unternehmens seien Vorstände trotz der geschlossenen Ablehnung der Arbeitnehmerseite berufen worden.
Warnungen an Russwurm und López, wichtige Entscheidungen dürften im Falle einer Abstimmung zur Stahlsparte nicht noch einmal „mit der Brechstange“ durchgesetzt werden, erzeugten aber augenscheinlich nicht die von der IG Metall erhoffte Wirkung. Nüchtern teilte das Thyssenkrupp-Management am Abend nach der Aufsichtsratssitzung vom 23. Mai mit: „Die Entscheidung wurde mit dem Zweitstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden getroffen gegen die Stimmen der Arbeitnehmervertreter.“ Russwurm hatte es also erneut getan.
Die IG Metall reagierte prompt. „So etwas hat es bei Thyssenkrupp noch nie gegeben. Jetzt sind wir im Konfliktmodus“, schimpfte Konzernbetriebsratschef Tekin Nasikkol. Schon wenige Stunden vor der Aufsichtsratssitzung hatte der nordrhein-westfälische IG-Metall-Chef Knut Giesler die Konzernführung um Russwurm und López gewarnt, sollte es eine Entscheidung zum Teilverkauf der Stahlsparte gegen die Stimmen der Arbeitnehmervertreter geben, sei „monatelange Unruhe“ in den Betrieben die Folge.
Auch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) scheint die Sorge umzutreiben, bei Thyssenkrupp könnte es einen langen und harten Konflikt geben. Schon vor einigen Tagen hatte sich Wüst an die Führung von Thyssenkrupp appelliert, sie möge die Arbeitnehmer beim anstehenden Konzernumbau einbinden. Harte Einschnitte und Stellenabbau lassen sich schwer erklären angesichts milliardenschwerer Staatshilfen für den Umbau des Unternehmens.
Ob sich Thyssenkrupp nur im Konflikt sanieren lässt? Das sei eine „interessante Frage“, sagte dazu Vorstandschef López zum Jahreswechsel im Gespräch mit unserer Redaktion. „Jahrzehntelang sind viele unserer Geschäfte nicht verlustfrei gefahren. Der Moment, ,Stopp!‘ zu sagen, musste kommen, und ist jetzt da. Alles andere wäre unverantwortlich“, argumentiert der Manager – und äußert sich auch auf der Kundgebung vor der Konzernzentrale ähnlich. „Ohne Einschnitte wird es nicht gehen“, ruft er den Beschäftigten zu. „Wenn wir aber jetzt nichts tun, riskieren wir weitaus mehr.“ Danach ertönen „López raus“-Rufe.
Die von Ursula Gather geführte Krupp-Stiftung, die auf dem Gelände der Essener Villa Hügel residiert, hat sich als größte Einzelaktionärin des Konzerns klar auf die Seite von López geschlagen. Ohne Gewinnausschüttungen des Unternehmens würde der gemeinnützigen Stiftung die Existenzgrundlage entzogen.
Auch von anderen Aktionärsvertretern bekommen Russwurm und López Unterstützung. „Thyssenkrupp steht mit dem Rücken zur Wand“, gibt Marc Tüngler, der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), zu bedenken. „Es geht ans Eingemachte, das müssen auch die Arbeitnehmer verstehen“, sagt Tüngler im Gespräch mit unserer Redaktion und fügt hinzu: „Ich glaube, dass Veränderungen bei Thyssenkrupp leider nur im Konflikt mit den Mitarbeitenden möglich sind.“ Insofern sei es aus seiner Sicht „alternativlos“ gewesen, dass Aufsichtsratschef Russwurm bei der wichtigen Frage nach dem Kretinsky-Einstieg von seinem Recht auf die Doppelstimme Gebrauch gemacht habe.
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