Essen. Bei Thyssenkrupp steht ein Vorstandsumbau bevor. Das Gremium wird größer. Bei der Aufsichtsratssitzung kommt es zu einem Eklat.

Bei Thyssenkrupp hat ein Vorstandsumbau einen Eklat im Aufsichtsrat ausgelöst. Die IG Metall, die mit Arbeitnehmervertretern im Kontrollgremium des Konzerns präsent ist, sprach von einer „Zäsur“ im Essener Traditionskonzern. „Zum ersten Mal in der Geschichte des Unternehmens werden Vorstände trotz der geschlossenen Ablehnung der Arbeitnehmerseite bestellt“, kritisiert die Gewerkschaft in einer ungewöhnlich scharfen Stellungnahme in der Nacht zum Donnerstag (30. November).

Doch die Entscheidung des Aufsichtsrats steht – teils auch gegen die Stimmen der Arbeitnehmervertreter: Thyssenkrupp baut den Vorstand um und bekommt zusätzliche neue Vorstandsmitglieder. Der Aufsichtsrat des Essener Industriekonzerns habe die Neubestellung von Volkmar Dinstuhl, Ilse Henne und Jens Schulte zu Vorstandsmitgliedern beschlossen, teilte Thyssenkrupp nach der Sitzung des Kontrollgremiums mit.

Dinstuhl, Henne und Schulte sollen Verträge für drei Jahre erhalten. Mit Ilse Henne gehört nach dem Rückzug von Martina Merz bald auch wieder eine Frau zum Thyssenkrupp-Führungsgremium. Damit werde der Vorstand künftig fünf – und nicht wie bisher drei Mitglieder haben.

Neuer Finanzvorstand – und damit Nachfolger vom scheidenden Amtsinhaber Klaus Keysberg – wird Jens Schulte, der derzeit Finanzvorstand des Glasherstellers Schott AG ist. Thyssenkrupp-Aufsichtsratschef Siegfried Russwurm, der auch Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) ist, lobte Schulte als einen Experten für Finanzen und Unternehmenstransaktionen.

Heftige Kritik der IG Metall nach Aufsichtsratssitzung

Die IG Metall tobt, weil das wichtigste Führungsgremium mitten in der Krise vergrößert werden soll. „Mit der heutigen Bestellung von zwei zusätzlichen Vorstandsmitgliedern gegen die Stimmen der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat der Thyssenkrupp AG findet ein Kulturbruch in der Mitbestimmung statt“, heißt es in einer Mitteilung der Arbeitnehmervertreter. „Die Maske ist heute gefallen“, so die IG Metall weiter. „Diese Zäsur wird Spuren hinterlassen und dem bislang ausgewogenen und konstruktiven Dialog im Aufsichtsrat dauerhaft Schaden zufügen.“

Es sind einflussreiche IG Metaller im Aufsichtsrat von Thyssenkrupp vertreten, darunter Jürgen Kerner, der Zweite Vorsitzende der Gewerkschaft, und Konzernbetriebsratschef Tekin Nasikkol. Beide stellten sich gegen die Pläne von Aufsichtsratschef und BDI-Präsident Russwurm. Eine solche Konfrontation ist ungewöhnlich.

Mit scharfen Worten attackieren die Arbeitnehmervertreter das Management. „Seit mehreren Jahren wurde die ,Group of Companies‘ als Zielbild der Thyssenkrupp AG ausgegeben. Die Anteilseigner hätten zeitweise die Zentrale in Essen am liebsten aufgelöst“, so die IG Metall. „Nun folgt die radikale Kehrtwende und die Devise lautet: Alle Macht der Zentrale – der Vorstand wird nahezu verdoppelt.“ In der Aufsichtsratssitzung habe sich gezeigt, „dass die Anteilseigner bei Thyssenkrupp kein Interesse mehr an einem belastbaren Miteinander mit der Arbeitnehmerseite haben“.

IG Metall gegen Vergrößerung des Vorstands, Krupp-Stiftung dafür

Die Signale, die mit der Vorstandserweiterung verbunden seien, bezeichnete die IG Metall als verheerend: „Überall laufen Sparprogramme, die Performance soll erhöht werden. Der Druck ist maximal gestiegen, Investitionen wurden und werden weiterhin gestrichen beziehungsweise eingefroren. Auch ein Dutzend Vorstände wird dieses Unternehmen nicht gegen die eigenen Mitarbeitenden führen können. Wasser predigen und Wein trinken wird nicht zum Erfolg führen.“

Bislang hat der Vorstand von Thyssenkrupp drei Mitglieder: Miguel Lopez (vorn) sowie Oliver Burkhard (links) und Klaus Keysberg. Nun soll der Vorstand auf fünf Mitglieder vergrößert werden.
Bislang hat der Vorstand von Thyssenkrupp drei Mitglieder: Miguel Lopez (vorn) sowie Oliver Burkhard (links) und Klaus Keysberg. Nun soll der Vorstand auf fünf Mitglieder vergrößert werden. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Die von der früheren Dortmunder Uni-Rektorin Ursula Gather geführte Essener Krupp-Stiftung, größte Einzelaktionärin des Konzerns, verteidigt die Entscheidung, den Vorstand zu vergrößern. „Die Stiftung begrüßt die Erweiterung des Vorstands“, erklärt die Stiftung, die auf dem Gelände der Essener Villa Hügel residiert, am Morgen nach der Aufsichtsratssitzung. In der neuen Aufstellung könne „das sich gut ergänzende Gremium optimal mit dem herausfordernden Umfeld umgehen“.

Im Umfeld der Konzernführung wird betont, mit fünf Mitgliedern sei die Größe des Vorstands „völlig normal“ angesichts von 100.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz in Höhe von rund 40 Milliarden Euro. Offen bleibt indes, warum Aufsichtsratschef Russwurm und der erfahrene IG Metall-Funktionär Kerner, die sich lange aus Siemens-Zeiten kennen, den Konflikt um den Thyssenkrupp-Vorstand nicht haben entschärfen können.

Wetzel: „Kein Vertrauen mehr in den Verkaufsprozess für den Stahl“

Aus Sicht führender Arbeitnehmervertreter geht es um viel mehr als die Frage nach der Zusammensetzung des Vorstands. Schließlich steht mit Blick auf einen etwaigen Verkauf der Stahlsparte Thyssenkrupp Steel an den tschechischen Milliardär Daniel Kretinsky eine entscheidende Weichenstellung für den Revierkonzern an. Rund 27.000 der etwa 100.000 Beschäftigten von Thyssenkrupp arbeiten in der Stahlsparte. López hat bei der Bilanzvorlage für einen Deal mit Kretinsky geworben, doch Arbeitnehmervertreter sind skeptisch. Würde die Thyssenkrupp-Führung einen Verkauf des Stahlgeschäfts gegebenenfalls auch gegen die Stimmen der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat beschließen?

Thyssenkrupp-Aufsichtsratschef Siegfried Russwurm drückte zwei neue Vorstände gegen den Willen der Arbeitnehmervertreter durch.
Thyssenkrupp-Aufsichtsratschef Siegfried Russwurm drückte zwei neue Vorstände gegen den Willen der Arbeitnehmervertreter durch. © dpa | Britta Pedersen

„Ich habe nach diesem Vorgehen von Russwurm und López kein Vertrauen mehr in den Verkaufsprozess für den Stahl“, sagt Detlef Wetzel, der frühere IG Metall-Chef, der jetzt bei Thyssenkrupp Steel stellvertretender Aufsichtsvorsitzender ist. „Es ist deutlich geworden, dass der Vorstand nicht mehr daran interessiert ist, bei wichtigen Entscheidungen Kompromiss-Lösungen zu finden“, kritisiert Wetzel im Gespräch mit unserer Redaktion. Das sei mit Blick auf mögliche Entscheidungen zu Thyssenkrupp Steel bedenklich, so Wetzel. „Wir müssen davon ausgehen, dass der Vorstand beim Stahl im Zweifel auch gegen die Interessen der Beschäftigten entscheidet.“

Die aktuelle Entwicklung kommentiert Wetzel mit den Worten: „Das ist eine Zeitenwende für Thyssenkrupp.“ Es sei um mehr als Vorstandspersonalien gegangen: „Ein Prinzip ist etabliert worden.“ Auch Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), die den Umbau bei Thyssenkrupp Steel mit rund zwei Milliarden Euro unterstützen wollen, sollten dies beachten, mahnt Wetzel. „Es muss ein Alarmzeichen für die Bundes- und die Landesregierung sein, dass der Vorstand von Thyssenkrupp augenscheinlich keinen Wert mehr auf Kompromisse legt.“

Neuer Finanzchef für Thyssenkrupp kommt von außen

Die Arbeitnehmervertreter betonten nach der Aufsichtsratssitzung, die Entscheidung zum neuen Finanzchef sei einstimmig gefallen. Zum Hintergrund: Thyssenkrupp hatte im September erklärt, Keysberg habe sich dazu entschieden, für eine Verlängerung seines bis zum 31. August 2024 laufenden Vertrags nicht zur Verfügung zu stehen. Thyssenkrupp betonte am Mittwochabend (29. November), Keysberg habe den „Wunsch, zum Ende seines laufenden Vorstandsvertrags aus dem Unternehmen auszuscheiden“. Der Wechsel auf dem Posten des Thyssenkrupp-Finanzchefs solle indes voraussichtlich „in der zweiten Hälfte des Geschäftsjahres erfolgen“. Diese beginnt ab April, da ein Geschäftsjahr bei Thyssenkrupp von Oktober bis Ende September läuft.

Ursula Gather, die Chefin der Krupp-Stiftung: Die Thyssenkrupp-Großaktionärin sieht die Erweiterung des Thyssenkrupp-Vorstands positiv.
Ursula Gather, die Chefin der Krupp-Stiftung: Die Thyssenkrupp-Großaktionärin sieht die Erweiterung des Thyssenkrupp-Vorstands positiv. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Strategisch ist von Bedeutung: Die Aufgabenverteilung im Thyssenkrupp-Vorstand soll sich ändern. Ab Januar sollen die Sparten im Konzern einzelnen Vorstandsmitgliedern zugeordnet werden. Vorstandschef Miguel López werde für die Stahlsparte und das neue Segment Decarbon zuständig sein, das grüne Technologien voranbringen soll. Volkmar Dinstuhl kümmere sich um den Autozulieferbereich (Automotive Technology). Oliver Burkhard habe die Verantwortung für die Marine-Sparte mit dem Schiffs- und U-Boot-Bau. Ilse Henne bekomme die Zuständigkeit für den Werkstoffhandel (Materials Services).

Tüngler: „López ist gekommen, um etwas zu verändern“

Das Ziel sei eine „Neuausrichtung des Vorstands“, der sich künftig mehr als bisher mit der „operativen Steuerung des Unternehmens“ beschäftigen soll, heißt es in der Mitteilung von Thyssenkrupp. Im Vordergrund stünden dabei die Themen „Performance und Portfolio“.

„Die Verbesserung der finanziellen Stärke unserer Geschäfte und die Dividendenfähigkeit des Unternehmens bestimmen maßgeblich unsere Agenda“, kommentierte Vorstandschef López den Vorstandsumbau. „Hinzu kommen die Wachstumspotenziale aus der grünen Transformation und die Dekarbonisierung unserer eigenen Geschäfte.“

Die neuen Vorstandsmitglieder Volkmar Dinstuhl und Ilse Henne sind im Unternehmen bekannt. Dinstuhl war zuletzt Chef der Sparte „Muli Tracks“ mit Tochterunternehmen, die bei Thyssenkrupp auf der Verkaufsliste standen. Ilse Henne ist seit einiger Zeit Mitglied des Vorstands der Werkstoffsparte Thyssenkrupp Materials Services. Sie sollen Unternehmensangaben zufolge zum 1. Januar 2024 in den Vorstand der Thyssenkrupp AG wechseln.

Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) sieht es positiv, dass López nach mehr Einfluss im Konzern strebt. „Was bei Thyssenkrupp gefehlt hat, war starke Führung. Thyssenkrupp sollte glücklich sein, dass endlich jemand bereit ist, die Verantwortung auch zu übernehmen“, sagte Tüngler am Tag nach der Aufsichtsratssitzung im Gespräch mit unserer Redaktion. „López ist gekommen, um etwas zu verändern. Das ist ein guter Ansatz.“

Thyssenkrupp tief in die roten Zahlen gerutscht

Bei seiner ersten Jahresbilanz für Thyssenkrupp musste López vor wenigen Tagen noch einen milliardenschweren Verlust präsentieren. Unter dem Strich sei im Geschäftsjahr 2022/23 ein Fehlbetrag in Höhe von zwei Milliarden Euro entstanden, teilte das Unternehmen am 22. November mit. Ursächlich seien vor allem Wertberichtigungen in der Bilanz der Stahlsparte, zu der große Standorte in Duisburg, Bochum, Dortmund und Südwestfalen gehören. Im Vorjahreszeitraum hatte Thyssenkrupp noch einen Jahresüberschuss in Höhe von 1,2 Milliarden Euro erwirtschaftet. „Die Leistungsfähigkeit der Geschäfte ist nicht da, wo sie sein sollte – und das seit Jahren schon“, sagte López bei der Bilanzpressekonferenz im Essener Konzern-Quartier. „Wir verdienen zu wenig Geld.“ Für das laufende Geschäftsjahr hat der Manager ehrgeizige Ziele präsentiert.

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