Wesel/Hamminkeln/Schermbeck. Laut einer Recherche sind viele Zertifikate für Ökogas fragwürdig. Die Stadtwerke Wesel haben das Geschäft jüngst beendet – aus anderen Gründen.

Mit Erdgas heizen und trotzdem etwas für das Klima tun – mit diesem Versprechen verkaufen viele Energieversorger in Deutschland ihr klimaneutrales Erdgas oder Ökogas. Die Idee: klimaschädliche Emissionen, die an einer Stelle entstehen, zum Beispiel durchs Heizen, werden an einer anderen Stelle ausgeglichen – durch den Schutz von Wäldern in Brasilien, den Bau von Wasserkraftwerken in Indien oder durch das Installieren von Solaranlagen auf Mauritius. Doch das Recherchenetzwerk Correctiv hat nun unter Beteiligung von Wissenschaftlern herausgefunden, dass viele angebotene Produkte oft weit weniger grün sind als angepriesen. Recherchen von Radio KW haben zudem ergeben, dass auch die Versprechen einiger Energieversorger im Kreis Wesel ins Leere laufen. Wie sieht es bei den Grundversorgern hier vor Ort aus?

Die Stadtwerke Wesel tauchen zwar in der Correctiv-Datenauswertung, die der NRZ-Redaktion vorliegt, auf. Allerdings kann dem kommunalen Versorger nicht vorgeworfen werden, wirkungslose CO₂-Gutschriften eingelöst zu haben. So hat das Unternehmen demnach beispielsweise Emissionsgutschriften aus Windenergieprojekten in Indien und Wasserkraftprojekten in China eingekauft. Einen wissenschaftlichen Nachweis, dass dadurch weniger CO₂ eingespart wurde als angegeben, hat Correctiv in diesen Fällen nicht gefunden.

Warum die Stadtwerke Wesel kein Ökogas mehr verkaufen

Was allerdings auffällt, ist die lange Zeitspanne zwischen Reduzierung und Einlösung der Zertifikate – im extremsten Fall sind es bis zu 15 Jahre. Das Kraftwerk in China wurde bereits 2008 gebaut, 17.500 Gutschriften, das entspricht ebenso vielen Tonnen CO₂, wurden aber erst 2023 eingelöst. Das hat laut Experten einen bestimmten Grund: Je älter die Gutschriften, desto billiger werden sie in der Regel. Doch laut den Correctiv-Recherchen ist das ein Problem: Damit CO₂-Kompensationen überhaupt einen positiven Effekt haben kann, sollte der Abstand zwischen Vermeidung oder Reduzierung und Einlösung möglichst gering sein. Beträgt der Zeitraum mehrere Jahre, seien die Emissionsgutschriften unbrauchbar, denn Emissionen, die vor Jahren vermieden wurden, sind mittlerweile längst in die weltweite Klimabilanz eingepreist.

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Von dem Geschäft mit Ökogas haben sich die Stadtwerke Wesel zum Jahreswechsel verabschiedet und die CO₂-Kompensationen dauerhaft aus dem Portfolio gestrichen – allerdings habe diese Entscheidung nichts mit der nun aufkommenden Kritik an der Wirksamkeit der Zertifikate zu tun gehabt, betont Geschäftsführer Rainer Hegmann.

Die Entscheidung sei bereits im Sommer 2023 aus vollkommen anderen Gründen gefallen. „Wir möchten CO₂-Reduktion im Rahmen der Wärmewende durch Vor-Ort-Maßnahmen erreichen. Unser Fokus gilt dem Aufbau der regenerativen Wärmeversorgung“, so Hegmann weiter. Im Zuge der Wärmewende sei die Kompensation über Projekte in weit entfernten Teilen der Welt nur ein „Zwischenschritt“ gewesen.

Gas-Grundversorger in Hamminkeln und Schermbeck betroffen

Anders sieht es bei der Firma Erenja aus. Das Tochterunternehmen der Gelsenwasser AG aus Gelsenkirchen ist der Grundversorger für Gas in Hamminkeln und Schermbeck. Im vergangenen Jahr hat das Unternehmen insgesamt 45.629 CO₂-Gutschriften eingelöst. Laut Correctiv stammen diese Gutschriften aus einem Wasserkraftwerk in Indien.

Der Geografie-Professor Dr. Marcus Nüsser von der Universität Heidelberg geht jedoch davon aus, dass dieses Kraftwerk auch ohne die zusätzlichen Einnahmen aus dem Handel mit CO₂-Gutschriften finanziert worden und ohnehin ans Netz gegangen wäre. Heißt: Durch die CO₂-Gutschriften wurde mit sehr großer Wahrscheinlichkeit kein zusätzliches Kohlendioxid reduziert. Zudem gibt es Kritik daran, dass vor Ort große Schäden im Ökosystem entstanden seien.

Rainer Hegmann ist Geschäftsführer der Stadtwerke Wesel.
Rainer Hegmann ist Geschäftsführer der Stadtwerke Wesel. © FUNKE Foto Services | Markus Weissenfels

Auf Anfrage der Redaktion äußerte sich das Unternehmen zu den Vorwürfen. „Die Anbieter prüfen die Standards der Projekte, die mit dem Kauf der Zertifikate gefördert werden. Eine Prüfung vor Ort ist durch Erenja etc. bei den internationalen Projekten nicht möglich. Deshalb kommen nur Zertifikate namhafter Anbieter infrage“, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme. Der Konzern lasse den Ausgleich durch die Zertifikate zusätzlich durch den TÜV Nord prüfen.

Dass zwischen tatsächlicher Reduktion von CO₂ und der Einlösung teilweise viele Jahre liegen, sei „üblich“ und vom TÜV-Standard abgedeckt. Allerdings schreibt Erenja bezogen auf das konkrete Projekt in Indien, dass vorsorglich keine weitere Zertifikate mehr daraus bezogen würden.

Hintergrund zur Recherche

Die Recherchen von Correctiv basieren auf den öffentlichen Kompensationsregistern Verra und Gold Standard. Nach Angaben des Netzwerkes sind sie im engen Austausch mit Wissenschaftlerinnen des New Climate Institute, der ETH Zürich, der Berkeley University, dem Öko Institut in Berlin, der Deutschen Umwelthilfe (DUH) und anderen Expertinnen entstanden.

Correctiv hat die Kompensationsaktivitäten und CO₂-Gutschriften von 150 deutschen Gasversorgern untersucht – für 116 konnte nachgewiesen, dass in einem oder mehreren Fällen, teilweise auch über Jahre hinweg Gutschriften aus Projekten gekauft wurden, die laut wissenschaftlicher Einschätzung mit sehr großer Wahrscheinlichkeit kein oder weniger CO₂ reduziert oder gespeichert haben als von den Projektentwicklern berechnet.

Grundsätzliche Kritik an der Vermarktung von Erdgas als Ökogas, wie sie auch die Stadtwerke Wesel betrieben haben, äußert die Expertin Claudia Kemfert gegenüber Correctiv. Diese Art der Werbung für das Produkt sei fragwürdig. „Es gibt nicht wirklich klimaneutrales Erdgas, auch wenn CO₂-Emissionen kompensiert werden. Erdgas kann nicht emissionsfrei sein“, sagt die Umweltökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).

Das liege vor allem daran, dass der vollständige Abbau von CO₂-Emissionen laut Umweltbundesamt (UBA) bis zu mehrere hunderttausend Jahre dauern kann. Kompensation könne nur einen Bruchteil dieser Emissionen tatsächlich ausgleichen und das auch nur kurzfristig. Kemferts Urteil: „Klimaneutrales Erdgas als Werbeversprechen ist eher ein Narrativ, um die fossilen Geschäftsmodelle länger aufrechtzuerhalten.“