Oberhausen. Die Groß-Demos gegen Rechtsextremismus sind beeindruckende Zeichen der breiten Mitte der Gesellschaft. Doch das reicht nicht. Ein Kommentar.

Diesmal kamen nicht nur die üblichen Aktivistinnen und Aktivisten der linken Szene. Nein, diesmal demonstrierten in Oberhausen Bürger aus der breiten Mitte der Gesellschaft, von progressiv bis konservativ, gegen menschenverachtende Politik-Visionen der Rechtsextremen und Rechtspopulisten. Die Großdemonstrationen bundesweit zeigen, dass viele Menschen spüren: Unsere Demokratie, unser Lebensstil, unsere Liberalität, unsere Toleranz, ja unsere Gesellschaft mit großer individueller Freiheit ist in Gefahr.

Die AfD ist nur das Symptom für die Verwerfungen unserer Gesellschaft

Weltweit gewinnen Rechtspopulisten, Autokraten und Diktatoren an Zuspruch, in Deutschland sind solche zunehmenden Einstellungen von Wählern aber besonders schockierend angesichts der Holocaust-Verbrechen deutscher Nazis. Die bundesweiten Kundgebungen nur als Anti-AfD-Demos zu verstehen, wäre aber zu kurz gegriffen. Die AfD hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend radikalisiert - mit menschenfeindlichen Visionen, ihre Strippenzieher planen nichts Geringeres als ein anderes System. Ihre Verachtung für demokratisch gewählte Repräsentanten und Institutionen ist in vielen ihrer offiziellen Texte zu erkennen.

Die AfD ist allerdings nicht die Wurzel fremdenfeindlicher und autokratischer Einstellungen, sondern nur das hässliche Symptom; das Zeichen, dass unsere Zeitläufe Menschen in die Arme von Rechtsextremisten treibt.

Redakteur Peter Szymaniak kommentiert die Großdemonstrationen und den Höhenflug der Rechtspopulisten in Deutschland.
Redakteur Peter Szymaniak kommentiert die Großdemonstrationen und den Höhenflug der Rechtspopulisten in Deutschland. © Oberhausen | Anna Stais

Erstens sorgen eine Fülle von Krisen, allen voran Klimawandel, Flüchtlingsströme, Kriege, für extreme Verunsicherungen.

Zweitens wird diese Stimmung durch Propagandamaschinen der Autokraten und Rechtspopulisten immer weiter hysterisiert.

Drittens sind Menschen in Krisen auf der Suche nach Sündenböcken - und umso leichter verführbar.

Viertens gibt es in jeder Gesellschaft traurigerweise Rechtsextremisten und Faschisten (etwa zehn Prozent), die sich nun ermutigt fühlen, sich auch in Deutschland, trotz seiner Nazi-Geschichte mit vielen Millionen Toten, zu zeigen.

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Fünftens sind zahlreiche Menschen der Mühsal langwieriger, langsamer demokratischer Prozesse mit ihren abgewogenen Lösungen überdrüssig, sie sehnen sich nach einem starken Mann/nach einer starken Frau, die ihnen autokratisch von oben zeigt, wo es lang geht - selbst wenn die Richtung falsch wäre. Diese Stimmung existiert schon länger. Wer jemals die Begeisterung von Unternehmensführern auf der Transrapid-Strecke in China erlebt hat, die die Machthaber dort entschlossen, schnell und ohne Umwelt- oder Bürgerbedenken vorangetrieben haben, weiß: Diese Sehnsucht nach diktatorischem Machtgebrauch reicht bis in Kreise der Träger unserer Gesellschaft.

Sechstens ist der Höhenflug der Rechtspopulisten nur möglich, weil demokratische Parteien in zentralen Feldern versagt haben. Sie lösen die Probleme der Menschen ihrer Basis nicht ausreichend. Die politische Diskussionskultur verliert sich in Debatten über den richtigen Sprachgebrauch, akzeptable Karnevalskostüme und die dritte Toilette für andere Geschlechter, statt Kernfelder zu beackern: miese Infrastruktur, schlechte Pisa-Bildungsergebnisse, mangelhafte Deutschkenntnisse von Zuwanderern, Missbrauch unseres guten Sozialsystems, illegale Zuwanderung von Flüchtlingen, Wohnungsnot, fehlende Klimafreundlichkeit der Industrie.

Deshalb reichen Demos gegen Neo-Faschisten nicht, sondern Bürger der Mitte sollten in demokratische Parteien eintreten, um dort mitzugestalten, oder zumindest wählen gehen. Und deren Spitzen sollten endlich Deutschland in die Zukunft führen.