Mülheim. Nach dem Suizid einer krebskranken Mülheimerin zeigt die Polizei drei Leute an. Ein unglücklicher Fall. Der betroffene Palliativarzt berichtet.
Am Nachmittag des 14. September 2023, einem Donnerstag, wird der Mülheimer Hausarzt Uwe Brock zu einer Patientin gerufen. Die schwer krebskranke Frau ist verstorben. Nicht direkt in Folge ihres Krebsleidens, sondern durch eine Medikamentenvergiftung, die sie selber herbeigeführt hat. Aus freien Stücken. Der Arzt stellt den Totenschein aus. „Ich musste dort eintragen ,nicht natürlicher Tod‘“, berichtet Brock. Das bedeutet immer: Die Polizei muss hinzugezogen werden, um die Todesursache zu klären.
Gegen 15 Uhr habe er an jenem Donnerstag seine Praxis verlassen, um zu der Verstorbenen zu eilen, erinnert sich der Hausarzt, erst gegen 17.30 Uhr sei er zurück gewesen. Dazwischen: eine ausgedehnte Vernehmung durch erst zwei, dann vier Polizeibeamte, am Ende Strafanzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung gegen ihn als Arzt, eine Pflegekraft und gegen den Lebensgefährten der soeben Verstorbenen. Sie alle hatten die bewusstlose Patientin, die sich schon am 13. September das Leben nehmen wollte, palliativ betreut. Uwe Brock wirkt bis heute, ein Vierteljahr später, durch den Vorfall aufgewühlt, entsetzt, erschüttert. Er sagt: „Es ist sehr belastend, wenn man angezeigt wird und genau weiß, dass man nichts Unrechtes getan hat.“
Mülheimerin wollte laut Patientenverfügung nicht reanimiert werden
Die unheilbar kranke Patientin, 64 Jahre alt, hatte klar festgelegt, dass sie im Ernstfall nicht reanimiert werden möchte, keine lebensverlängernden Maßnahmen wünscht. Es gab eine entsprechende Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht. Nach ihrem Suizidversuch habe sie noch einige Zeit gelebt, berichtet Uwe Brock, „sie war aber nicht mehr bei Bewusstsein, nicht mehr ansprechbar“.
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Der Lebensgefährte sei pausenlos bei ihr geblieben, mehrmals schaute eine Palliativpflegekraft nach der Patientin, drei Hausbesuche habe er selber gemacht: „Wir sind dabei geblieben, um bei Bedarf Symptome zu lindern - Luftnot, Schmerzen, Übelkeit.“ Das sei jedoch nicht nötig gewesen. Die bewusstlose Frau wiederzubeleben, kam für den erfahrenen Hausarzt nicht infrage. „Weil der Patientenwille über allem steht.“
Staatsanwältin: Verfahren gegen Mülheimer Hausarzt längst eingestellt
Dass Brock absolut korrekt gehandelt hat, bestätigt auf Anfrage dieser Redaktion auch Jill Mc Culler, zuständige Staatsanwältin in Duisburg, bei der das Verfahren inzwischen gelandet ist. Dass die Kripo Ermittlungen aufnimmt, sei üblich bei einer unnatürlichen Todesursache. Man sei sich in diesem Fall aber einig, dass kein strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt. „Arzt und Pflegekraft haben richtiger Weise keine lebenserhaltenden Maßnahmen ergriffen. Ihr Verhalten ist überhaupt nicht zu bestanden.“ Die Staatsanwältin sagt sogar: „Es wäre schlichtweg verboten, etwas anderes zu tun, wenn eine entsprechende Patientenverfügung vorliegt.“ Daher habe sie das Verfahren schon Mitte November eingestellt.
Der Mülheimer Hausarzt ist für diese Klarstellung dankbar. Jedoch: Sie erreicht ihn auf Umwegen. Und mit immenser Verspätung. Über die Einstellung des Verfahrens vor nunmehr einem Monat habe ihn und die anderen Betroffenen bislang niemand informiert, sagt Brock. Staatsanwältin Mc Culler widerspricht nicht: „Da es momentan starke Rückstände in den Akten gibt, kann es sein, dass ihnen der Bescheid noch zugeht.“ Für die Beschuldigten zieht sich eine belastende Zeit in die Länge. „Ich kann nachvollziehen, dass es für Arzt und Pflegekraft gravierende Vorfälle sind“, so Mc Culler. „Es tut mir auch leid.“
Stundenlange Vernehmung in der Wohnung der Verstorbenen
Wo liegt der Fehler? Der Hausarzt meint, in Wissenslücken der eingesetzten Polizisten. Bei der stundenlangen Vernehmung in der Wohnung der verstorbenen Mülheimerin habe er sich gefühlt „wie im Film“, schildert der 61-Jährige. „Als ein Polizeibeamter zu mir sagte: ,Alles, was Sie jetzt sagen, kann gegen Sie verwendet werden‘, habe ich mich gefragt, wo hier die Kamera ist.“ Das KK 11 der Polizei Essen, unter anderem zuständig für Todesermittlungen, habe sich gleich am folgenden Tag gemeldet, den Leichnam freigegeben und sich für die Strafanzeigen entschuldigt, sagt Brock. Danach hörte er sehr lange nichts.
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Staatsanwältin Jill Mc Culler sagt, die Polizeibeamten hätten die Situation vor Ort rechtlich offenbar nicht richtig einordnen können. „Sie haben den Arzt, die Pflegekraft und den Lebensgefährten als Beschuldigte belehrt, damit diese nicht zu ihrem Ungunsten aussagen. Das kann man als falsch empfinden.“
Palliativmediziner fordert Fortbildung für Polizeibeamte
Uwe Brock ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert als niedergelassener Hausarzt tätig, er sagt, er betrete oft den schmalen Grat zwischen Patientenversorgung und unterlassener Hilfeleistung. In Mülheim hat er, gemeinsam mit Kollegen, vor rund vier Jahren ein Netzwerk für die Versorgung Schwerstkranker zu Hause initiiert: die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV). Aktuell würden 60 Patientinnen und Patienten versorgt, berichtet Brock, sieben Ärzte wirkten mit, zwei Psychotherapeutinnen und spezialisierte Pflegekräfte. Das Thema liegt ihm persönlich sehr am Herzen. „Und wenn ein Polizist nicht weiß, was Palliativmedizin ist, muss es eine Fortbildung geben“, meint der Hausarzt.
Er meint es nicht nur, er ist auch aktiv geworden. Als Mülheimer Vertreter der Ärztekammer Nordrhein hat er den Polizeipräsidenten Andreas Stüve um einen persönlichen Gesprächstermin in dieser Sache gebeten, gemeinsam mit dem Essener Ärztekammer-Vertreter, Dr. Matthias Benn. Das Schreiben wurde am 2. Oktober versendet, fast genau einen Monat später ließ Stüve schriftlich absagen. Begründung: Das laufende Ermittlungsverfahren, in dem Brock beschuldigt sei, stehe aktuell einem Gespräch entgegen. Ein Sprecher der Polizei Essen/Mülheim bestätigt auf Anfrage dieser Redaktion, dass das Schreiben der Ärztevertreter eingegangen sei: „Und es ist auch so, dass ein Treffen zum derzeitigen Zeitpunkt nicht stattfinden kann.“
Uwe Brock machen diese Vorgänge fassungslos. Aber auch kämpferisch. Er sagt: „Palliativmedizin entwickelt sich gerade. Das Bewusstsein muss sich durchsetzen, dass der Patientenwille über allem steht. Patienten müssen sicher sein können, dass der Hausarzt in ihrem Sinne handelt. Darauf vertrauen die Leute.“ Wenn aber Verunsicherung von Seiten der Polizei erzeugt werde, wenn Ärzte Angst haben müssten, in ein langwieriges Ermittlungsverfahren zu geraten, dann würden sie vielleicht zögern, zum Wohle des Patienten zu handeln. Speziell bei der Polizei sieht der gestandene Mülheimer Hausarzt Schulungsbedarf: „Das muss eine steile Lernkurve werden.“
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