Mülheim. Nicht immer ist die Geburt eines Kindes das typische Bilderbuch-Erlebnis, manchmal sogar traumatisch. Wie Frauen merken, ob sie betroffen sind.
„Irgendwann“, sagt Grazyna Stawicki, „habe ich aufgehört mitzuzählen.“ Wie viele Kinder die leitende Hebamme des Evangelischen Krankenhauses in ihren 39 Berufsjahren auf die Welt geholt hat, kann sie nicht genau sagen. Dass sie mittlerweile aber auch schon die Geburten der Frauen begleitet, die sie selbst vor Jahrzehnten entbunden hat, lässt erahnen, wie viele es doch sind. „Das fängt jetzt auch bei mir langsam an“, bestätigt Dr. Andrea Schmidt. Die Chefärztin hat 28 Jahre Berufserfahrung.
Die beiden Frauen wissen also, wovon sie reden, wenn sie vom Kreißsaal und der Zeit danach berichten. Von Frauen und Männern, die glücklich und wohlauf ihr Neugeborenes mit nach Hause nehmen, aber auch von denen, die sagen: Ich habe ein ungutes Gefühl, hier lief etwas nicht richtig. Von denen, die ganz klar sagen: Ich habe Gewalt im Kreißsaal erlebt.
Mülheimer Klinik nimmt Sorgen und Ängste der Eltern ernst
„Es vergehen teils Jahre“, sagt Andrea Schmidt. „Nicht immer merken die Frauen – oder auch Männer – sofort, dass da etwas im Argen liegt.“ Statistische, belastbare Zahlen dazu, wie oft es zu Gewalt im Kreißsaal kommt, gibt es nicht. Und wenn doch, dann liege die Dunkelziffer vermutlich noch mal höher. Im EKM sind in diesem Jahr bislang rund 720 Kinder zur Welt gekommen, 2022 waren es 924 Säuglinge, der Wert für 2021 lag mit 767 etwas darunter. Die Quote der Mütter, die Gesprächsbedarf hinsichtlich traumatischer Erlebnisse bei der Entbindung anmeldeen, ist im Verhältnis dazu verschwindend gering.
„Wir führen etwa drei bis vier dieser Gespräche im Jahr“, sagt Grazyna Stawicki. Das Angebot für ein nachträgliches Gespräch macht die EKM-Frauenklinik grundsätzlich allen Frauen, die dort ein Kind entbunden haben. „Das läuft ganz unterschiedlich ab. Je nachdem, worum es geht und was die Frauen bewegt“, so die 61-Jährige. Egal ob hochemotional oder eher sachlich, eines eine alle Gespräche: „Die Frauen wollen verstehen und begreifen, was im Kreißsaal passiert ist und wieso es passiert ist.“
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Mülheimer Ärztin: Viele Mütter plagt ein Schuldgefühl
Oft gelte es bei einer Geburt, gerade im Notfall, schnelle Entscheidungen zu treffen. „Da ist es verständlich, dass die Frauen in dem Moment gedanklich nicht mitkommen und ihnen erst im Nachhinein Sachen auffallen.“ Oftmals spiele auch eine vermeintliche Schuld eine Rolle, wie Chefärztin Andrea Schmidt erklärt: „Für nicht wenige Frauen gilt es als persönliches Versagen, wenn sie nicht natürlich gebären können. Auch darüber können wir aufklären.“ Ein gemeinsames Durchgehen des Geburtsberichts und die fachliche Einordnung zeigten dann oft, dass sämtliche Maßnahmen erschöpft waren und ein Kaiserschnitt unausweichlich war – zum Wohle des Kindes. „Und dann sehen diese Frauen auch ein, dass sie nicht Schuld haben, im Gegenteil.“
Generell betrachtet, so die beiden Fachfrauen, sei die Geburtshilfe über die Jahre und Jahrzehnte sanfter geworden. So sei der Kristeller-Handgriff, bei dem mit den Händen auf das Gebärmutterdach gedrückt wird, um das Kind schneller auszutreiben, längst nicht mehr zeitgemäß und die schmerzhemmende Periduralanästhesie (PDA) gefragt. Geburtsverletzungen wie der Dammriss seien erheblich zurückgegangen und auf mechanische Instrumente, wie etwa die Saugglocke, greife man nur zurück, wenn es denn unbedingt notwendig sei. „Und auch hier muss man sagen, dass die Saugglocke deutlich kleiner und angenehmer geworden ist“, so Schmidt.
„Was traumatisch für sie ist, entscheidet eine jede Frau selbst“
Allem Fortschritt und aller Vorsicht zum Trotz – „was traumatisch für sie ist, entscheidet eine jede Frau selbst“, betont die 54-Jährige. Was der einen nicht mal auffalle, sei für die nächste Mutter ein erheblicher Eingriff in die Privatsphäre. „Da ist jede Frau anders und unsere Aufgabe ist es, sie so zu nehmen, wie sie sind. Ohne Wenn und Aber.“ Das Gefühl, die Kontrolle abzugeben und sich scheinbar ohnmächtig den Ereignissen hingeben zu müssen, stecke nicht jede Frau gleich weg. „Manche empfinden das auch gar nicht so“, sagt Grazyna Stawicki. „Manche Frauen wollen ganz selbstständig sein und so wenig Hilfe wie möglich, andere orientieren sich sehr an uns.“
Im Vergleich zu früher seien die werdenden Eltern deutlich aufgeklärter über das, was sie erwarte und welche Optionen sie haben. „Das Bedürfnis nach Sicherheit ist groß“, erklärt die Chefärztin. Das erkläre aus ihrer Sicht auch die steigende Rate geplanter Kaiserschnitte. „Grundsätzlich empfiehlt sich immer eine natürliche Geburt, solange gesundheitlich nichts dagegen spricht“, so die Medizinerin. „Aber wir sind immer zur Beratung bereit und erklären alle Vor- und Nachteile.“
Letztlich gehe es schließlich vor allem darum, dass sich die werdende Mutter wohlfühlt. „Und es ist an uns, alles dafür zu tun, dass die Geburt einfacher wird“, sagt Grazyna Stawicki.
Wer nach der Geburt im EKM Gesprächsbedarf verspürt, kann sich jederzeit bei der Frauenklinik melden. Unabhängig davon, wie lange die Entbindung zurückliegt, nehmen sich Andrea Schmidt und Grazyna Stawicki Zeit für ein persönliches Gespräch. Kontakt: Dr. Andrea Schmidt, 0208 309 2500, andrea.schmidt@evkmh.de, Grazyna Stawicki, 0208 309 4513, grazyna.stawicki@evkmh.de.
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