Mülheim. Beim Konzert der Baltic Sea Philharmonic in Mülheim riss es das Publikum von den Sitzen. Warum auch die Musiker meistens auf den Beinen waren.
„Es ist unsere Aufgabe, etwas zu kreieren, zu begeistern, zu inspirieren und Neues zu wagen“, sagt Kristjan Järvi, Leiter der Baltic Sea Philharmonic, die am Sonntag im Rahmen der Sinfoniekonzerte in der Stadthalle zu Gast war. Und diesem Anspruch wurde der 70-köpfige Klangkörper mehr als gerecht: Das Orchester, oder besser eine „Band auf akustischen Instrumenten“, wie Leiter Kristjan Järvi sie nennt, ist dabei, mit ihrem modernen Konzept dem Konzertwesen gänzlich neue Wege aufzuzeigen.
Keine Notenpulte, keine Stühle, alle stehen, wiegen sich in der Musik, gehen auf der Bühne hin und her oder gruppieren sich, wenn sie solistisch im Einsatz sind, um Kristjan Järvi herum, der vorne mittig auf der Bühne das Zentrum der Instrumentalisten bildet. Sie stehen in lockeren Gruppen zusammen und sind doch teils bunt gemischt.
Nussknacker im neuen Gewand
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Verschiedenfarbiges Licht und Spots auf das Wichtige bietet dem Auge noch Abwechslung und verstärkt die Stimmungen und den musikalischen Ausdruck. Dass die Musiker alle schwarze, eigens für sie entworfene Shirts mit weißem Labelaufdruck tragen, schafft Nähe und Gemeinschaftsgefühl. Das Auge hat hier beinahe so viel zu sehen wie das Ohr zu hören bei ihrem derzeitigen Programm „Nutcracker reimagined“, zu deutsch: „Nussknacker neu gedacht“.
Hier klingt Tschaikowskys Ballettmusik neben dem bravourösen Klavierkonzert von Grieg – brillant gespielt von der litauischen Pianistin Gabriele Bekerytė, die festes Mitglied der Baltic Sea ist –, gefolgt von Arvo Pärt, Elgars „Nimrod“ aus den Enigma-Variationen und eigenen Kompositionen der Orchestermitglieder. Nacheinander gespielt verschmelzen die Werke durch selbst kreierte, klanglich schlichte und rhythmisch mitreißende Übergänge doch miteinander, thematisch durch Märchenmotive miteinander verbunden. Ein langer, ununterbrochener Klangfluss, der berührt, im positiven Sinne einlullt und den Abend zum Gesamtkunstwerk macht.
Standing Ovations für das Mülheimer Konzert, das die Sinne vielfältig ansprach
Sphärische, oft übereinander geschichtete Wohlklänge, hier und da durch elektronische Elemente ergänzt oder verfremdet, doch immer harmonisch schmeichelnd fürs Ohr - passend für die vorweihnachtliche Zeit. Lebendige Interaktion auf der Bühne und mit dem Publikum, das singend mit eingebunden wird, ganz viel Spielfreude unter den jungen Musikern aus sämtlichen baltischen Staaten, Leidenschaft und die fesselnde Art zu musizieren machen dieses Klangerlebnis zu einem wahren Fest der Sinne.
„So was hab ich noch nie erlebt“ war aus den Standing Ovations heraus begeistert zu vernehmen. Charismatisch tritt dieses in Usedom gegründete Orchester auf, hemmungslos wohlklingend in seiner erfindungsreichen Klangsprache und Kristjan Järvi bewegend in seiner Vorstellung, dass „wir alle diese Musik im Inneren tragen und sich so die Musik der Zukunft anhört“.
Spätestens mit den zwei sphärischen Zugaben Sireen und Stringsong Infinity war auch der letzte davon überzeugt. Ein außergewöhnliches und emotionales Erlebnis.
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