Mülheim. Seit 1952 ist Frau Pukowitz nicht umgezogen. Anfangs war es extrem eng. Bis heute fehlt ein Badezimmer. Doch die Mülheimerin liebt ihre Wohnung.
Wer genauer erfahren möchte, wie groß die Wohnungsnot nach dem Krieg war, bis weit in die fünfziger Jahre hinein, sollte sich einmal mit Waltraud Pukowitz unterhalten. Nach ihrer Heirat im Februar 1952 fanden sie und ihr Mann Anton kein gemeinsames Zuhause. Ein Thyssen-Direktor, in dessen Haushalt die junge Frau „in Stellung“ war, habe eine Wohnung für sie organisieren wollen, erzählt die 90-Jährige. Dann sei er ganz plötzlich verstorben.
Ihr Ehemann war ebenfalls bei Thyssen beschäftigt, in der Produktion, doch die firmeneigene Wohnungsverwaltung konnte erst nichts für das Paar tun. Zu viele warteten schon. Ein Zimmer war wohl frei, in der Bülowstraße, in einem Haus, das im Krieg unversehrt geblieben war. Das konnten sie besichtigen. So begann die lange, sehr spezielle Mietgeschichte von Waltraud Pukowitz. Sie lebt dort bis heute, auf vergrößerter Fläche.
Mülheimerin und ihr Mann zogen im Herbst 1952 an die Bülowstraße
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Schräg gegenüber liegt die evangelische Kirche an der Wilhelminenstraße - durch das Zimmerfenster sieht man das neugotische Gemäuer. Durch die Wände schallen die Glocken, sie läuteten pünktlich, als das junge Paar erstmals das Haus anschaute. Findet man hier Ruhe? „Das ist so laut, wir müssen doch morgens zur Arbeit“, habe sie zu ihrem Mann gesagt. Doch eine Alternative hatten sie auch nicht, also mieteten sie das Zimmer für 9,50 D-Mark im Monat, irgendwann im Herbst 1952, das genaue Datum weiß die Mülheimerin nicht mehr.
Sie zogen ein, richteten sich ein, stellten Möbel auf, schliefen, saßen, kochten, aßen im selben Zimmer. Die Toilette liegt bis zum heutigen Tag auf dem Flur. „Wir fühlten uns dort wohl und waren erst mal zufrieden. Dann meldete sich ein Kind an.“ Im März 1955 kam ihre Tochter zur Welt, es war eine Hausgeburt, allerdings nicht daheim an der Bülowstraße, sondern in der Wohnung einer befreundeten Familie in Saarn.
Mülheimer leben auch mit dem Kleinkind noch auf engstem Raum
Doch auch mit dem Baby, aus dem bald ein Kleinkind wurde, musste sich die Familie noch bescheiden. Mindestens anderthalb Jahre vergingen, ehe die damalige Hauseigentümerin ihnen weitere Räume abtrat: eine recht geräumige Küche und ein Wohnzimmer, jeweils mit Blick in den Garten. Zumindest theoretisch, denn transparente Fensterscheiben, die Tageslicht einlassen, mussten erst peu à peu eingebaut werden. Die Räume seien ihnen dunkel und in chaotischem Zustand übergeben worden, erinnert sich die 90-Jährige. Immerhin hatten sie nun deutlich mehr Platz, an die 65 Quadratmeter. Für ein separates Kinderzimmer reichte es jedoch nie.
Den damaligen Zustand des Gartens beschreibt Waltraud Pukowitz so: „Sechs Wäschepfähle, zwei Birnbäume, Pfefferminztee, Gänseblümchen.“ Es machte ihr viel Freude, das Stückchen Grün zu beleben, zu gestalten: „Ich lebte in meinem Garten.“ Heute gelangt sie nur noch mit Mühe und Vorsicht hinein, braucht Hilfe bei den Treppenstufen hinunter zu Blumen und Rasen.
Obwohl die Wohnung nie Eigentum war, haben Waltraud Pukowitz und ihr Mann sehr viel investiert. Sie ließen Parkettböden legen, in der Küche eine Dusche einbauen. „Während andere in Urlaub gefahren sind, haben wir hier reingesteckt. Ich wollte es schön haben.“ Waltraut Pukowitz war immer berufstätig, sie hatte Putzstellen, im Kaufhof sowie in Privathaushalten, auch nach dem frühen Tod ihres kranken Ehemannes. Inzwischen ist sie zum zweiten Mal verwitwet.
Angst, als das Haus verkauft werden sollte: „Ich war zum Zerreißen nervös“
In Schrecken versetzten sie Gerüchte, dass das Haus verkauft werden sollte. Das war vor etwa 20 Jahren, und es war eine Tatsache. Drei fremde Männer seien erschienen, um die Immobilie genau in Augenschein zu nehmen. „Ich bin fast wahnsinnig geworden, das war ganz schlimm. Ich war zum Zerreißen nervös.“ Der künftige Eigentümer war auch dabei, er habe sie beruhigt: „Keine Angst...“ Nach dem Kauf sei er mit ins Haus gezogen, habe vieles erneuern, renovieren lassen, berichtet die 90-Jährige.
Altersbedingt musste sie in den letzten Jahren einiges aufgeben: Radtouren, Spaziergänge mit dem Hund ihrer Tochter, Verkäufe auf Flohmärkten mit ihrer Clique - „Trödel war mein großes Hobby“. Die Kraft in den Beinen fehlt, und das macht auch die Wohnsituation beschwerlich. Mit Rollator durch den Hausflur zur Toilette, das ist nicht optimal. Doch Waltraut Pukowitz sagt, in diesen Zimmern befinde sich ihr ganzes Leben: „Ich habe hier alles reingesteckt. Daher liebe ich diese Wohnung so.“
Wir suchen die „dienstältesten“ Mieterinnen und Mieter in Mülheim. Wohnen Sie auch schon sehr lange im selben Haus, länger als Waltraud Pukowitz? Dann sind wir gespannt auf Ihre Geschichte. Schreiben Sie uns per Mail an redaktion.muelheim@waz.de oder an die WAZ-Redaktion, Wallstraße 3a, 45468 Mülheim, Telefon-Kontakt: 0208-44308-31.
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