Mülheim. Frau Haferkorn zog 1957 in ihre Wohnung. Sah dort Kinder aufwachsen, geliebte Menschen sterben. Nun fängt die Mülheimerin (99) ganz neu an.
Mehr als 66 Mietjahre in derselben Wohnung an der Friedrichstraße, Mülheim-City: Das hat Irmgard Haferkorn geschafft. Wir haben kürzlich in ihrem Wohnzimmer gesessen, gemeinsam mit ihrer Tochter Bärbel und einer langjährigen Nachbarin. Viele Erinnerungen kamen in der kleinen Runde hoch, doch es wurde auch in die Zukunft geblickt - gespannt, nervös, erwartungsvoll, betrübt, je nach Person.
Zwei Tage später ist Frau Haferkorn umgezogen, in das Betreute Wohnen der MWB im Stadtquartier Schloßstraße. Es ging nicht mehr, nach Erkrankungen und Stürzen. Sie lebt jetzt einige hundert Meter entfernt, mit Blick auf die Ruhr. Damit endete eine Mietgeschichte, die in der Petticoatzeit begann. Im Frühling 1957 sind Irmgard Haferkorn, ihr Ehemann („Ingenieur mit Leibe und Seele bei Siemens“) und zwei kleine Töchter an die Friedrichstraße gezogen.
Mülheimerin musste Kriegshilfsdienst leisten - in München ausgebombt
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Die Seniorin ist gebürtige Mülheimerin, doch als Mädchen und junge Frau war sie zu etlichen Umzügen gezwungen. Arbeitsdienst, Kriegshilfsdienst habe sie leisten müssen, berichtet die 99-Jährige. In Pommern, in Berlin, später landete sie in Süddeutschland. „In München sind wir ausgebombt und verschüttet worden. Zu dritt. Aber ich lebe immer noch.“ Später war sie bis zum Kriegsende eine Zeit lang in Salzburg tätig, als Sekretärin an einer Musikschule. Anwaltsgehilfin habe sie gelernt und immer gearbeitet, mit nur einer Unterbrechung, als die Kinder klein waren.
Vier Zimmer, rund 80 Quadratmeter - die junge Familie war damals froh über die Neubauwohnung an der Friedrichstraße. Was Irmgard Haferkorn als Erstes in Erinnerung kommt: „Das Haus war gerade gebaut worden. Unten hatten wir noch gar keine Haustür.“ Und rundherum gab es auch noch nicht viel, „unser Haus stand ganz alleine, im Laufe meines Mietlebens wurde hier sehr viel wieder aufgebaut“. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten schlossen sich viele Lücken in der Mülheimer Innenstadt.
Blick vom Balkon auf die Pauli-Kirche, die 1971 abgerissen wurde
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Tochter Bärbel erinnert sich an den Blick vom Balkon auf der hinteren Seite des Hauses: Man sah die Pauli-Kirche an der Delle, die es längst nicht mehr gibt. Der Küster, ein netter Mann, habe sie als Kinder auf dem Grundstück Rollschuh laufen und Ball spielen lassen. Im Oktober 1971 wurde die Kirche abgerissen, gegen den Protest etlicher junger Leute in Mülheim - sie wollten in dem ungenutzten Gebäude ein selbstverwaltetes Jugendzentrum aufbauen.
Die Wohnlage sei immer sehr ruhig gewesen, meint die Tochter, was sich viele Leute hier, an dieser lebhaften Straße, gar nicht vorstellen könnten. Sie wendet sich ihrer Mutter zu: „Wohnen wir hier ruhig oder nicht?“ „Und ob“, antwortet die 99-Jährige. Nur momentan, da lärmen Baumaschinen direkt vor dem Haus, doch das muss Irmgard Haferkorn nicht mehr groß stören.
Schwiegervater und Ehemann starben in der Wohnung an der Friedrichstraße
Die schönste Zeit an der Friedrichstraße? „Es war eigentlich immer schön“, sagt die Seniorin, doch es muss auch schwere Jahre gegeben haben. Ihren Schwiegervater hat sie lange versorgt, der von Anfang an zum Haushalt gehörte. Später pflegte sie ihre Mutter und ihren demenzkranken Mann. Beide sind hier in der Wohnung verstorben. 2015 verlor Irmgard Haferkorn ihre jüngste Tochter. Aber sie beklagt sich nicht.
Das Mietshaus ist in privater Hand. Der frühere Eigentümer habe mit im Haus gewohnt, berichtet Tochter Gisela, später kauften Mülheimer Geschäftsleute die Immobilie. Die Verwaltung liege bei Haus & Grund: „Für uns ist das herrlich. Wenn nötig, bekommen wir sofort Hilfe.“
Fremde junge Frau im Treppenhaus: „Ich wohne hier“
Irmgard Haferkorn hat in diesem Haus einen ganz besonderen Menschen: ihre Nachbarin Ursula S., auch schon 91 Jahre alt, auch schon seit 1966 unter diesem Dach, auf derselben Etage. Sie achten aufeinander. Vor allem achtet Ursula S. auf Irmgard Haferkorn, die das Haus zuletzt kaum noch verlassen konnte, weil es dort keinen Aufzug gibt.
Generell aber sei die Hausgemeinschaft in früheren Jahrzehnten enger und geselliger gewesen, finden die Frauen. „Wenn früher jemand Geburtstag hatte, tauchten alle hier auf.“ Neulich sei ihr eine fremde junge Frau im Treppenhaus begegnet, die einen Schlüssel hatte, erzählt Ursula S., und die dann überraschender Weise sagte: „Ich wohne hier.“
Mittlerweile ist an der Friedrichstraße eine außerordentlich lange Nachbarschaft offiziell zu Ende gegangen. Ursula S. war der Schmerz darüber schon Tage vorher deutlich anzumerken. Tränen stiegen hoch. „Ich besuch’ dich.“ Irmgard Haferkorn wirkte zuversichtlich und gelassen, obwohl sie das neue Appartement im Betreuten Wohnen, knapp 60 Quadratmeter groß, noch nie gesehen hatte. Sie zweifelte nicht: Tochter und Enkelkinder hätten bestimmt ein schönes Zuhause für sie ausgesucht.
99-Jährige konnte sich immer gut von Dingen trennen
Die 99-Jährige war vorbereitet. Ihre Tochter sagt: „Meine Mutter ist einer der wenigen Menschen, die regelmäßig ausgemistet und sich von unnützem Zeug getrennt haben.“ Irmgard Haferkorn erklärt: „Mein Herz hängt nicht an irgendwelchen Dingen. Ich fange ganz neu an.“ Und das ist offensichtlich gelungen. Die Seniorin sei „total begeistert“ von der neuen Wohnung, berichtet die Tochter. Was für eine Erleichterung.
Wir suchen die „dienstältesten“ Mieterinnen und Mieter in Mülheim. Wohnen Sie auch schon sehr lange im selben Haus, länger als Irmgard Haferkorn? Dann sind wir gespannt auf Ihre Geschichte. Schreiben Sie uns per Mail an redaktion.muelheim@waz.de oder an die WAZ-Redaktion, Wallstraße 3a, 45468 Mülheim, Telefon-Kontakt: 0208-44308-31.